Vernunft und Liebe
Die Nacht hätte nicht besser verlaufen können. Kaum eine Böe zog über die See und auch der Himmel war deutlich aufgeklart, sodass man nun keine einzige Wolke mehr entdecken konnte. Dank der klugen Nymphe Yara, hatten die Abenteuersuchenden den Kurs des Schiffes geändert und konnten sich dadurch im letzten Moment dem rachsüchtigen Meer des mächtigen Triton entziehen.
Am Horizont glomm bereits ein warmes Licht auf, das sich aus dem stillen Gewässer erhob und allmählich ins Zentrum des Himmels empor stieg. Ein rötlicher Schein umhüllte die Luft, sowie das Herz des alten Zauberers, der ganz und gar in melancholische Gedanken versunken war. Grübelnd lehnte er sich über den spitz zusammenlaufenden Bug des Schiffes und sah dem grauen Nebel entgegen, auf den das Schiff zusteuerte. Außerdem war Kyron nicht entgangen, dass die feuchte Luft von einem lauen Dunst erfüllt war, der sich für tropische Gebiete auszeichnete.
„Was hast du, Kyron?", erkundigte sich der Blondschopf neugierig und kam an die Seite des Zauberers.
„Jetzt ist es nicht mehr weit", hauchte der Alte sinnend, als sich im selben Augenblick hinter dem Nebel eine imposante Insel offenbarte, die durch einen breiten Strom geteilt wurde. Das Schiff fuhr unverblümt in den schieren Urwald, der so rein und naturbelassen wirkte, als wäre es nie anders gewesen.
Staunend betrachtete Merrick die urigen Wälder, von denen sie nun umgeben wurden und drehte sich dabei immerzu um die eigene Achse. Es machte beinahe den Anschein, als könnte sich der Junge nicht satt sehen. „Faszinierend", flüsterte Merrick leise, sodass nur er es hörte. Er hatte noch nie zuvor einen so exotischen Dschungel mit eigenen Augen gesehen.
Aus den Tiefen des Urwalds, welcher sich beidseitig erstreckte, hallten die Gurrlaute und gellenden Schreie der Paradiesvögel tausendfach wider. Es war so viel Leben in diesem Wald und dennoch mussten sie auf der Hut sein. Die Nymphen tauchten nur knapp unter der Wasseroberfläche, die ein blasses türkisgrün angenommen hatte und sahen sich immer wieder bedächtig um. Sie befanden sich in gefährlichem Terrain. Nymphen waren hier unerwünscht. Wenn Neptun davon erführe, würde er die sieben Meere beben lassen und ins Chaos stürzen.
Das Schiff fuhr den breiten Strom einige Zeit entlang, bis sich schließlich eine schmale Abzweigung auftat, der sie folgten. Ein dunkler Schatten legte sich über das Schiff. Nun waren sie gänzlich von Wildnis umgeben, und es gab kein Zurück mehr. Kaum hatten sie den mystischen Pfad eingeschlagen, standen sie schon vor einem Problem. Ein gigantisches Steintor versperrte dem Schiff den Weg und auch an Land verzweigten sich die tropischen Gewächse so stark miteinander, dass es kein Weiterkommen gab.
„Sind wir hier sicher richtig?", wagte Merrick behutsam eine Frage und musterte das alte Tor. Der blondhaarige Junge erkannte schlangenartige Wesen, geheimnisvolle Symbole und das Gesicht eines Mannes, das im Zentrum des Tors lag. Die Augen der Wandskulptur waren besetzt mit zahlreichen Edelsteinen. Fasziniert warf der junge Blondschopf einen genaueren Blick auf die Abbildung des Männergesichtes, als ihn eine durchdringende Stimme aufhorchen ließ.
„Wer verlangt die Pforte Maceiras zu passieren?", erklang die markerschütternde Stimme eines gottesähnlichen Wesens.
Entschlossen richtete sich Kyron auf und erhob das Wort. „Wir sind nur ein paar Reisende, auf der Suche."
„Und wonach sucht ihr?", wurde sofort erwidert.
„Ich kann nicht für meine Gruppe sprechen, doch was mich anbelangt... Mich verschlägt die Pflicht der Freundestreue hierher." Kyron schluckte und sah gedankenschwer zu Enfys, die ebenfalls sichtlich nervös war.
„Ihr seid klug, Zauberer. Leider kann dies nicht von Euren Meerfreunden behauptet werden. Es war leichtsinnig von ihnen nach Maceira zu kommen. Neptun wäre nicht erfreut. Nun sagt, Zauberer, wie würdet Ihr mit solch frevlerischen Wesen verfahren?", drang die Stimme zu dem Alten, der plötzlich ergriffen schmunzelte.
„Jedes Buch muss eines Tages enden, auch das Buch der Schulden. So sei ausgesöhnt, was längst vergangen und geachtet, was noch anrückt. Denn eines ist sicher: Das Tor der Erlösung finden nur jene, die bereit sind, auf der Pforte der Vergebung zu wandeln." Tränen stiegen dem alten Zauber hoch. Es waren nicht seine Worte gewesen, sondern die seines verstorbenen Freundes. Und plötzlich ergab alles einen Sinn. Sofus hatte seinen Kameraden so oft dazu aufgefordert das Wesentliche im Visier zu behalten, doch Kyron wollte nie hören.
Stille erfüllte die Umgebung. Es war eine fast in den Wahnsinn treibende, nervenraubende Ruhe, die endlos zu sein schien. Doch urplötzlich leuchteten die Edelsteine des alten Tors strahlend blau auf, woraufhin das Tor im Meer versank und sie von einem grellen Licht umhüllt wurden, das alles in sich vereinte.
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Das Juwel des Ozeans #Ideenzauber | ✓
القصة القصيرةEinst bestritt der alte Zauberer Kyron viele Abenteuer, bis er sich eines Tages zur Ruhe setzt und seine letzten Jahre auf der abgeschotteten Insel Tarfu fristet. Jedoch holt ihn die Vergangenheit ein, als er einen Brief von seinem früheren Kamerade...