II

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Jung und Alt gesellt sich gern

   Schon am frühen Morgen packte der alte Zauberer eine kleine Tasche für seine Reise. Er verstaute den magischen Kompass und die Karte seines Freundes in der Ledertasche. Auch ein großer Wasserbeutel durfte nicht fehlen. Zwischen zwei trockenen Umhängen und dem sättigendem Reisebrot der Elfen, verzichtete der Graubart unter keinen Umständen auf sein heiß geliebtes Tagebuch und seine feine Tintenfeder. Auf dieser besonderen Reise wollte er alles auf Papier festhalten, ohne dabei auch nur ein einziges Detail auszusparen.

Der Zauberer schlüpfte in seine besten Schuhe und zog sich seinen liebsten Umhang über, durch den kein Tropfen Wasser sickerte. Im Türspalt ausharrend, linste der Mann über die Schulter in seine bescheidene, aber dennoch gemütliche Kemenate und hob die Mundwinkel. Dies war das letzte Mal, dass er seine kleine Wohnung zu Gesicht bekäme. Er legte den Schlüssel seiner Wohnung auf den Küchentisch und verließ danach das alte Gebäude, in dem er so viele Jahre gelebt hatte.

Mit einem freudigen Lächeln auf den Lippen und seinen Habseligkeiten im Gepäck, schlenderte der Zauberer durch die Hafenstadt Tarfu. Auf den gepflasterten Straßen war bereits eine große Menschenmenge eingetrudelt. Begierige Blicke huschten umher. Mit gewebten Körben in der einen Hand und einem, oder gleich zwei kleinen Kindern in der anderen Hand, spurten die Menschen an den Ständen des Markts vorbei und sahen sich interessiert um. Es gab frischen Fisch, duftende Früchte, Gemüse in allerlei Farben und auch die hoch geschätzten Schmuckstände waren hier zugegen.

Jeder, der an dem alten Zauberer vorbeikam, schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln und begrüßte ihn frohmütig. „Guten Morgen, Kyron! Einen wunderbaren Tag wünsche ich!", sprachen ihn die meisten an. Auch die Gesichter der jungen Kinder erhellten sich bei Kyrons Anblick. Mit glänzenden Augen rissen sich die Kleinen von den Griffen ihrer Eltern los und tobten unzähmbar auf den alten Magier zu. „Erzählst du uns wieder von einer deiner Reisen?", fragten diese bettelnd und traten aufgeregt von einen auf den anderen Fuß. „Bald, meine Kleinen, schon sehr bald werdet ihr von Kyrons letztem Abenteuer hören, ich verspreche es", beteuerte der Zauberer mit einem verschwörerischen Grinsen, ehe er wieder seines Weges ging.

Auch der Hafen war schon zu so früher Stunde belebt gewesen. Fischer fuhren mit ihren Booten hinaus auf die offene See, um dort ihre Netze auszuwerfen. Streunende Katzen tollten wild auf den Straßen und auf den Schiffen umher, und auch die Matrosen eilten eifrig von Ort zu Ort. Kyron legte sein Augenmerk auf ein abgelegenes Schiff, das sich nicht direkt im morgendlichen Geschehnis befand. Vor dem blau-gold bemalten Holzschiff ausharrend, legte der Zauberer seinen Kopf leicht schief und erspähte den jungen, unternehmungslustigen Kapitän des Schiffes. Der alte Mann wartete eine kurze Zeitspanne, bis man auch ihn entdeckte.

Mit einem Ausdruck der sowohl ein Gefühl von Überraschung, als auch Freude vermittelte, stürmte der junge Kapitän über die fein geschliffenen Dielen des Bugs hinweg und schwang sich waghalsig an der Reling des Schiffes hinunter. Unmittelbar vor dem Zauberer auf dem Boden ankommend, grinste der Junge ihn verschmitzt an und breitete seine Arme willkommen heißend vor dem alten Mann aus, der ihn sofort in eine Umarmung schloss.

„Was habe ich dich vermisst, Kyron!", stimmte der blondhaarige Bube herzlich an. „Aber du lässt dich ja so gut wie nie blicken und ich...", begann er zu sprechen, als ihm seine Stimme versagte. Die sturmgrauen Augen des Jungen bohrten sich in die hellblauen Augen des Zauberers. Ein freudloses Seufzen folgte. „Ich bin ständig auf Reisen und wünschte dennoch ich könnte stattdessen deinen Geschichten lauschen." Der junge Kapitän schluckte den bitteren Geschmack, der sich in seinem Gaumen gesammelt hatte, hinunter und zuckte resigniert mit den Schultern.

„Ach Merrick, weißt du denn nicht, dass es nie auf das Ziel ankommt, sondern auf den Weg, der zum Ziel führt?" Kyron durchfuhr das zerzauste Haar des Jungen und lachte amüsiert auf.

„Meine Reisen sind nie so spannend, wie deine, Kyron", murmelte Merrick und sah mit großen Augen zu dem Zauberer. Für einige Sekunden beobachtete er den älteren Mann lediglich und überlegte still.

„Was führt dich eigentlich zu mir?", stieß der Junge dann zögerlich mit einem fragenden Blick aus.

Die Mundwinkel des Zauberers hoben sich an. Er holte aus der Innentasche seines Umhangs eine zusammengerollte Karte heraus und übergab sie dem Blondschopf. „Das hier."

Neugierig nahm Merrick das vergilbte, an den Ecken eingerissene und teilweise von der Feuchtigkeit aufgewölbte Pergament entgegen und betrachtete es eingehend. Von der Sonne geblendet, zog er eine strenge Miene und sah blinzelnd zu dem alten Zauberer auf. „Was ist das?", fragte Merrick eher skeptisch.

Das Lächeln des Zauberers wurde breiter, so dass sich seine Falten im Gesicht vertieften. Der Oberkörper des alten Mannes neigte sich zu Merrick, als würde er ihn nun in ein höchst prekäres und vertrauliches Geheimnis einweihen. „Na der Seeweg für deine lang ersehnte Reise", wisperte er dem Jungen zu.

Merricks Augen vergrößerten sich und schienen die Farbe der Sonne angenommen zu haben. Der blondhaarige Junge atmete langsam ein. „Eine Reise?", wiederholte er begeistert und glaubte nicht, was er da hörte. Merricks Vater unternahm früher oft Seereisen mit dem Zauberer. Dass Merrick nun diese Ehre zuteil werden sollte, kam ihm wie ein Traum vor. Kyron nickte absegnend und faltete die Hände ineinander.

„Auch mit Schätzen, seltenen Wesen und geheimen Orten?", fügte der Junge aufgeregt hinzu. Sein gesamter Körper stand unter Strom.

„Sonst wäre es doch kein Abenteuer oder?" Der alte Graubart zwinkerte Merrick zu, woraufhin dieser beglückt aufsprang und bis über beide Ohren schmunzelte.

Sofort wandte sich der Junge von Kyron ab und eilte hastig zurück auf sein Schiff, um seinen Männern Bescheid zu geben, dass sich die Route soeben geändert hatte. Wildes Durcheinandergerede brach aus. „Wohin geht es denn jetzt?", fragte einer der Matrosen wissbegierig, als der Zauberer ebenfalls an Deck gekommen war.

Merrick grinste tatenkräftig und erhob leidenschaftlich das Wort. „Bitte stellt für meinen guten Freund Kyron eine Kajüte bereit. Wir segeln mit dem Wind über Salz und See, zum Horizont und weiter, bis uns nur noch der Ozean und der Geschmack von Freiheit umgibt!"

Das Juwel des Ozeans #Ideenzauber | ✓ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt