2 - Raven

20 4 0
                                    

Das schrille Läuten der Schulglocke ließ Raven aufschrecken. Sie war so damit beschäftigt gewesen die einzelnen Wortfetzen der Schüler zu einem zusammenhängenden Thema zu fügen und sich so den Inhalt des Unterrichts zu erschließen, dass sie die Uhrzeit vollkommen aus dem Blick verloren hatte. Der gerade noch angebrochene Satz ging sofort in lautem Getuschel und dem Schaben der Hefte die vom Tisch in die Taschen geschoben wurden unter. Aus Frau Wagners Mund drang ein Laut der Empörung, doch auch er wurde kaum noch wahrgenommen und wich einem verzweifelten Seufzer. Raven hörte Stühle über den Boden kratzen und wildes Gewusel lauter Füße. Sie selbst saß immer noch an ihrem Platz. Das schwarze Haar im Gesicht. Versteckt. Erst als sie hörte, wie sich Leonie von ihrem Platz erhob und sich von ihrem Tisch fortbewegte, schob Raven sich eine Haarsträhne aus den Augen und begann ihren Block wieder in der Tasche zu verstauen. Raven hätte nicht gewusst, was sie hätte tuen sollen, wenn sich ihre Blicke ein weiteres Mal gekreuzt hätten. Nicht nach Leonies Worten über Schlehenforst. Sie waberten immer noch in ihren Gedanken und wussten dort nichts mit sich anzufangen. Raven hing sich den Rucksack über die Schultern. Der Klassenraum war mittlerweile fast leer. Nur noch vereinzelte Schüler waren damit beschäftigt ihre Taschen einzupacken oder sie auf der Suche nach etwas zu durchwühlen. Den Blick auf den Boden gerichtet schob Raven sich durch die Tischreihen hindurch. Auf dem Weg zu einem unbekannten Ziel. Raven hatte die Pausen schon immer gehasst. Auf ihrer alten Schule hatte sie immer mit lauter Musik auf den Ohren in der Schulbibliothek gesessen, vorsichtig die zerbrechlichen Seiten längst vergessenner Bücher umgeblättert und darauf gehofft, dass die Zeit schneller verstreichen würde. Doch nun wusste Raven nicht einmal welchen Weg sie wählen musste, um aus diesem Gebäude raus zu kommen. Sie würde sich durch Massen von Menschen schleichen und ihre Pause mit der Suche nach dem Raum für den nächsten Unterricht verbringen müssen. Allein bei dem Gedanke an so viele hitzige und laute Körper begannen ihre Finger zu beben. Raven zog mit zittrigen Fingern die Strähne wieder hinter ihrem Ohr hervor und ließ ihr Gesicht dahinter verschwinden, als sie die Türe erreichte. Sie wollte gerade auf den Gang hinaus schlüpfen, als sich eine Hand um ihren Arm schloss. Erschrocken über die plötzliche Berührung zuckte sie zurück. Ihr Gesicht wand sich zu der Person um, die hinter ihr stand. Wütend darüber, einfach so berührt worden zu sein. Es war der Junge aus der zweiten Reihe. Der Junge mit dem stacheligen blonden Haar und dem wachsamen dunklen Blick. Er trug ein rot kariertes Hemd, darüber eine helle Jeansjacke und an den Füßen rote Sneakers. "Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe." Der Junge setzte ein herzliches Lächeln auf. Anscheinend hatte er Ravens wütende Augen durch den schwarzen Schleier hindurch gesehen. Rasch ließ er ihren Arm los. "Ich hatte bloß Angst, du könntest verschwinden, bevor ich die Chance habe mit dir zu reden." Aus Ravens Augen wich die Wut, die sie so plötzlich gepackt hatte. Seine Worte und dieses Lächeln, dass so echt und offen wirkte verwirrte sie. Sie passten nicht zusammen. Jedenfalls nicht für Raven. Sie kannte diese Worte nur in Verbindung mit Lehrern, die ihr sagten, dass sie ihr Potenzial nicht nur in Klausuren zeigen sollte und ein solches Lächeln hatte sie bisher nur auf dem Gesicht ihrer Mutter gesehen. Es verwirrte sie so sehr, dass Raven vergaß, dass sie ihn immer noch anstarrte. Dass die Zeit, während sie sich an der Grenze zwischen Klassenraum und Schulflur gegenüber standen weiter lief. Erst als der Junge sich mit einer Hand im Nacken kratzte und die andere Raven entgegen streckte, fand sie wieder in die Realität zurück. "Ich heiße übrigens Aron." Schon wieder dieses Lächeln, dass so herzlich war, dass es die Dunkelheit, die vorhin noch in seinen Augen geschlummert hatte, sofort vergessen ließ, genau wie Ravens Abneigung gegen Berührungen. Vorsichtig schüttelte sie die ausgestreckte Hand. "Hi." Erst jetzt wurde Raven die Hitze in ihren Fingern wieder bewusst. Hastig zog sie ihre Hand zurück und versteckte sie wieder hinter den kratzigen Pulloverärmeln. Doch Aron schien überhaupt nicht darauf geachtet zu haben. Sein Lächeln war immer noch das selbe und auch sein Blick ruhte unverändert auf Ravens dunkler Gestalt. Zum ersten Mal hatte Raven das Gefühl, dass jemand nicht ihre zu lang geratenen Glieder, dass blasse Gesicht hinter dem dickem schwarzen Haar oder ihre staubgrauen und abgetragenen Wollpullover abschätzig musterte. Auch wenn Raven diesem Gefühl noch nicht trauen wollte. Noch fühlte es sich gefährlich an. "Hast du dir für die Pause eigentlich schon etwas vorgenommen?" Dieser Junge, der Raven gegenüber stand und mit ihr sprach, als wäre überhaupt nichts seltsames an ihr, verwirrte sie immer mehr. Er hatte mit ihr mittlerweile mehr Worte gewechselt, als all ihre früheren Mitschüler in den Jahren zuvor. Raven wusste nicht wie sie reagieren sollte. Sie wusste nur wie man verschwand, wie man für die anderen unsichtbar wurde. Daher war ihre Antwort auch leise und zittrig, wie eine Stimme, die lange nicht mit anderen gesprochen hatte. "Nein, ähm, eigentlich nicht." Das Lächeln auf dem Gesicht dieses Jungens wurde noch breiter. "Wenn du möchtest, kannst du mit mir mitkommen. Dann kann ich dir ein wenig die Schule zeigen und dich meinen Freunden vorstellen." Raven erwischte sich dabei, wie ihr ein flüchtiges Lächeln über die Lippen huschte, bevor sie sich wieder an die Gefahr erinnerte. Die Gefahr davor enttäuscht zu werden, davor, dass sie keine Erfahrungen hatte, wie man mit anderen Menschen Kontakte knüpfte und davor, dass jemand Dinge über sie heraus finden könnte, die sie zu verstecken versuchte und auch besser versteckt bleiben sollten. Doch neben dieser Gefahr, spürte sie auch wie sich irgendetwas zwischen ihren Rippen zusammen zog, sich danach sehnte mit einem anderen Menschen ihre Gedanken teilen zu können, ohne sich wie eine Außerirdische zu fühlen. Und wie diese Sehnsucht sie dazu brachte, das ihr Kopf als Einverständnis nickte, weil sie hoffte, dass Aron derjenige sein könnte, mit dem sie so etwas irgendwann würde tuen könnte. "Super" Aron grinste und machte eine gespielte Verbeugung mitten im Türrahmen. "Dann bitte nach dir Raven." Und gemeinsam verließen sie den Klassenraum.

Raven folgte Aron durch die mittlerweile nach Schweiß, Deo und Essen riechenden Schulflure zu einer blau angestrichenen Bank, die in der, wie Aron sie nannte, Pausenhalle stand. Auf ihrem Weg hatte sie noch kurz beim Schulkiosk gehalten und Aron hatte sich eine Packung Apfelchips und Raven, deren Hunger mittlerweile unterträglich geworden war, ein belegtes Brötchen gekauft. Je näher sie der blauen Bank kamen, desto besser konnte sie die beiden Gestalten erkennen, die sich bereits dort aufhielten. Ein Mädchen mit weiß gefärbten Haaren und knallrotem Lippenstift kauerte auf der Bank und lackierte sich ihre Fingernägel in dem selben Ton, wie der den sie auf den Lippen trug, während sie immer wieder Kaugummiblasen platzen ließ. Ihre Füße steckten in schweren Stiefeln und um ihre Beine ringelte sich eine Netzstrumpfhose. Neben ihr stand ein Junge, dessen blondes Haar bis auf wenige Millimeter abrasiert war und dessen Kleidung nur aus schwarz zu bestehen schien. Schwarzer Kapuzenpulli, schwarze Hose, schwarze Schuhe, schwarzer Nasenring. Sie waren Aussenseiter der Gesellschaft, dass sah man sofort. Genau wie Raven einer war. Mit dem Unterschied, dass sie sich gegenseitig hatten, dass sie zusammen anders waren. Raven dagegen war immer allein gewesen. "Hey Aron, wen hast du denn da mitgebracht?" der Junge mit dem rasierten Kopf winkte zu ihnen hinüber. Schlagartig kehrte die Unruhe in Ravens Körper zurück. Erst jetzt wurde ihr wirklich bewusst, dass sie zu ihnen gingen, um mit ihnen zu reden. Dass sie sich vorstellen musste und nicht wusste, wie die anderen reagieren würden. "Das ist Raven, sie ist neu auf unserer Schule." Raven nickte zaghaft zu ihnen herüber, ihr Finger hatte wider angefangen, in ihrem Pulloverärmel zu kratzen. Raven hatte vorher gar nicht bemerkt, dass sie damit aufgehört hatte. "Die Arme." Das war das Mädchen gewesen. Sie hatte nur kurz von ihren Fingernägeln aufgesehen um Raven zu begutachten. Aron lachte. Es war ein so fröhliches Lachen, dass Raven sich an ihm hätte wärmen können, hätte sie nicht schon zu viel Hitze in ihrem Körper. "Das ist Charlie." Aron deutete auf das Mädchen. Das Lachen immer noch in seiner Stimme. "Und das," Jetzt deutete Aron auf den anderen Jungen, der daraufhin die Hand hob. "ist Noah." "Hi" Das war die einzige Antwort die Raven einfiel. Sie spürte, wie die Unruhe in ihrem Körper immer stärker wurde und sie musste sich zusammen reißen still stehen zu bleiben. Ihre Adern begannen zu brodeln. Nichts schlimmes war passiert und doch wäre Raven jetzt lieber alleine gewesen. Hätte ihre Pause lieber alleine in Stille verbracht. Ihre Gedanken wussten nicht, wie sie auf so viele Personen reagieren sollten, also begannen sie in ihrem Kopf zu rotieren, bis sie nur noch ein graues Gewirr aus Wortfetzen war, die sie dazu aufforderten weg zu laufen. Nach draußen, in die Kälte. Doch dann musste Raven an Arons Lachen denken, an seinen Blick, in dem kein Funke Missbilligung lag und die Sehnsucht zwischen ihren Rippen kehrte zurück und ließ nicht zu, dass Raven sich von diesem Ort entfernen würde. Der Junge der Noah hieß, hatte sich mittlerweile neben Charlie gesetzt, die Beine angezogen und studierte ihre fertigen Nägel. Das Raven noch da war, hatten sie anscheinend total vergessen. Nur Aron sah sie immer noch an und beugte sich zu ihr hinüber. Seine Lippen zeigten immer noch sein fröhliches Lächeln und doch hatte sich unbemerkt wieder die Dunkelheit in seine hellen Augen geschlichen. "Weißt du eigentlich schon wie du nach Hause kommst?"

Kinder aus Glut und AscheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt