9 - Raven

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Raven hätte von Anfang an klar sein müssen, wohin Aron sie führen würde. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie sich nicht sofort sicher gewesen war, dass der Friedhof ihr Ziel werden sollte. Das Eisentor quietschte, als sie es öffneten und die verfluchte Erde betraten. Mittlerweile war das alles hier Raven schon so vertraut. Das Quietschen des Tores, der Anblick der unzähligen Grabsteine, der dichte Wald, der sich hinter dem Eisentor dunkel und wild erstreckte. Raven wusste sofort, was Aron ihr nun zeigen würde. Was der Grund für Frau Jansons Verhalten war. Sie wusste, dass es eine traurige Geschichte war, die sie in wenigen Sekunden zu sehen bekommen würde. Doch sie folgte Aron stumm weiter. Sie wollte, dass er es ihr zeigte. Sie wollte es mit eigenen Augen sehen. Raven wussten selbst nicht genau wieso.
Schließlich kam Aron zum Stehen, vor einem Grab, dass doch gleichzeitig drei Gräber waren. Sie hatte dieses Grab bereits bei ihrem ersten Besuch auf dem Friedhof gesehen. Sie erinnerte sich noch daran. An die Grabsteine, die sich gegenseitig stützen. "Carsten Janson 1976 - 1992" "Malte Janson 1987 - 1998" "Mario Janson 1988 - 1993".
"Das sind die Gräber der Jansonbrüder." begann Aron mit belegter Stimme. "Es ist eher selten, dass ein Kind wegen dem Fluch sterben muss. In einer Generation einer Familie ist es immer nur einer gewesen, wenn überhaupt. Darauf haben hier alle vertraut. Als dann 1992 Carsten der Älteste an dem Brand starb haben auch die Jansons darauf vertraut, dass ihre anderen Söhne den Fluch überleben werden. Doch sie sind alle gestorben. Sie haben alle ihre Söhne verloren. Ich wusste nicht, dass es noch diesen vierten Bruder gab. Doch ihn haben sie anscheinend auch an die Hexe verloren. Ich glaube genau deswegen ist es ihnen so wichtig, dass Niemand anderes nach Schlehenforst kommt. Sie haben selbst erlebt, dass hier alles möglich ist, egal wie sehr man glaubt diesen Ort und diesen Fluch zu kennen." Arons Stimme brach ab und er senkte den Kopf. Betroffen nicht Trauernd. Hatte er jemals zugelassen selber zu trauern?
Raven jedoch starrte weiter auf das Grab. Sie musste daran denken, wie sie gestern Nacht die Sterne über ihrem Bett aufgehangen hatte und wie wunderschön sie geleuchtet hatten. Sie musste daran denken, wie sie sich gefühlt hatte. Wie als wäre sie angekommen, als gehöre sie genau an diesen Ort. Doch diese Geschichte machte ihr nur allzu deutlich, wie wenig sie eigentlich wusste.
"Können diese Kinder nachts nicht nach Hause zurück kehren?"
Als Aron nicht sofort antwortete war sie sich auf einmal nicht mehr sicher, ob sie diese Frage nur in Gedanken gestellt oder tatsächlich laut ausgesprochen hatte. Also sah sie zu Aron auf. Dieser starrte angestrengt auf seine Schuhspitzen. Sie hatte die Frage anscheinend sehr wohl laut ausgesprochen.
"Das ist eine schwierige Frage." sagte Aron schließlich, als er Ravens Blick bemerkte.
"Wieso?"
Wieder war es still.
"Nun ja." Aron stockte, als wäre er sich nicht sicher, ob er weiter reden konnte. Doch dann fuhr er fort.
"Die Kinder die hier unter der Erde liegen erwachen zwar nachts wieder, aber sie sind trotzdem nicht lebendig. Sie sind immer noch sie selbst, aber irgendwie auch nicht mehr. Am Anfang versuchen viele den Kontakt zu ihrer Familie zu halten, aber irgendwann verlieren sie sich immer aus den Augen. Spätestens dann, wenn die jüngeren Geschwister bereits selber Kinder haben."
"Und Sam?" Raven erschrak beinahe vor sich selbst, als ihr bewusst wurde, welch eine Frage gerade ihre Lippen verlassen hatte. Sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
"Sam." Wiederholte Aron ihre Worte. Irgendwie abwesend, bevor er sich wieder gefangen hatte.
"Sam ist genauso gestorben wie all die anderen, die hier unter der Erde liegen."
Sam wird genauso verschwinden wie all die anderen. Das war es, was Aron eigentlich sagen wollte, aber nicht konnte. Das wusste Raven. Sah es an dem leichten Zittern seiner Hände. Es war das erste Mal, dass sie Aron so sah. So echt. So fühlend. Und dann war es plötzlich wieder vorbei. Dieser Moment indem Arons Seele durch seine Haut hindurch geschimmert hatte. Es war, als hätte Raven nur einmal kurz geblinzelt, als wäre die Welt für diesen einen kurzen Moment ins Wanken geraten.
Aron hatte wieder sein Lächeln aufgesetzt.
"Ich glaube das reicht für heute. Wir waren doch eigentlich wegen etwas ganz anderem unterwegs gewesen." Er lachte wieder sein fröhliche Aronlachen. Dann warf er einen Blick auf seine Uhr. "Ach Mist. Ich glaube nicht, dass wir es noch zu den Mitzschkes schaffen heute. Dabei fällt mir ein, dass ich ganz vergessen habe zu fragen, ob du eigentlich wieder Lust hättest bei unserer Bandprobe heute Abend dabei zu sein?"
Raven brauchte einen Moment um zu verstehen, was Aron gerade gesagt hatte. Zu sehr hing das Bild von einem Aron mit gesenktem Blick und zitternden Händen noch in ihren Gedanken fest. Sie versuchte sich davon loszulösen und sich auf den Aron zu konzentrieren, der nun vor ihr stand und sie erwartungsvoll anlächelte.
"Ja, sehr gerne " antwortete sie.

Als sie gemeinsam den Friedhof verließen nahm Raven eine Bewegung aus dem Augenwinkel war. Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie der schwarze Wolf durch das Loch im Zaun verschwand. Raven konnte sich nicht daran erinnern ihn vorhin gesehen zu haben. Hatte er sie etwa die ganze Zeit aus den Schatten heraus beobachtet?

Kinder aus Glut und AscheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt