Brief 6 - An einen Fremden

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Ich kenn zu wenig fremde Personen.
-Ich selbst :D

Lieber Fremder,
dieser Brief geht an Sie. Wir haben uns in der Straßenbahn "kennengelernt". Ich saß allein in einem Dreiersitz (heißt das so!?), als Sie einstiegen. Im ersten Moment hatte ich echt Respekt vor Ihnen, weil ich wegen ihrer Tasche dachte, dass sie trotz ihres Alters noch arbeiten. Arbeiten Sie noch? Ich kann das bei Ihnen echt schlecht einschätzen. Sie haben sich mit einem Platz Abstand zu mir in den Dreiersitz gesetzt und in diesem Moment haben sie mich an diesen Mann von Facebook erinnert. Der, der nach all den Jahren Ehe seiner Frau immer noch jeden Tag Blumen mit nach Hause bringt. Sie hatten zwar keine Blumen dabei, aber irgendwie musste ich einfach daran denken. Nach einem kurzen Stück der Fahrt sahen Sie mich an und sagten: "Ich muss mit der Linie 8 nach K." Ich kenne mich selbst nicht wirklich in der Gegend aus und wusste daher auch nicht in welcher Linie wir saßen. Daher guckte ich auf die Anzeigetafel. Linie 8 nach K. "Dann sind Sie hier richtig." Sie nickten, als hätten Sie das gewusst und als wüssten Sie, dass ich darüber nachdachte, welche Behinderung Sie haben könnten. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie eine haben könnten. Und Sie wirkten einfach...traurig und enttäuscht. Sie haben schon viel gesehen, wahrscheinlich nicht alles positiv. Ich würde gern ein paar Ihrer Geschichten hören, aber ich denke nicht, dass wir uns wiedersehen. Als wir an meiner Haltestelle ankamen, sahen Sie mich an und sagten plötzlich: "Ich muss nach K." "Dann müssen Sie bis zur letzten Station fahren. Ich muss jetzt aber raus. Tschüss." Wieder nickten Sie nur. Seitdem gehen Sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hoffe es geht Ihnen gut, wo immer Sie auch sind. Haben Sie noch ein langes, erfülltes Leben.

Liebste Grüße

Das Mädchen aus der Straßenbahn

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