Brief 19 - An die Person, die deine Gedanken manchmal plagt

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Human ist der Mensch, für den der Anblick fremden Unglücks unerträglich ist und der sich sozusagen gezwungen sieht, dem Unglücklichen zu helfen.
-Voltaire 

Hey Bahnhofmädchen,
in irgendeiner Weise hast du meine Weltansicht verändert. Solche Menschen vergisst man nicht. Die brennen sich einfach ins Gehirn. Ich erinner mich noch ziemlich gut an den Tag. Am selben Morgen hab ich mir geschworen nie an einer weinenden Person vorbei zu laufen. Nie. Nachmittags war ich am Hauptbahnhof und wollte nach Hause. Und auf der Treppe zu meinem Gleis hast du gesessen und geweint. Jeder hat dich nur komisch angestarrt und ist an dir vorbei gegangen. Ich zuerst auch. Nur dass ich nicht gestarrt habe. Als ich oben angekommen bin, hat mein schlechtes Gewissen mich fast aufgefressen. Ich kann doch nicht einen Vorsatz, den ich erst morgens gemacht habe, schon am Nachmittag brechen. Also bin ich wieder nach unten. Da hab ich mich neben dich gesetzt. Ich weiß noch ganz genau, dass ich nicht so recht wusste, was ich sagen soll. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr was ich gesagt habe. Aber du hast geantwortet. Und gelächelt. Nur kurz, aber das reichte mir fürs Erste. Ich war noch nie gut im trösten. Und daher fang ich in solchen Momenten einfach an zu reden. Bei dir waren es Einhörner. Ich weiß nicht mehr warum gerade dieses Thema, aber das hat mich in diesen Moment nicht gejuckt. Also hab ich geredet und geredet. Von pinken Glitzereinhörnern und sonst was. Du musst mich für vollkommen verrückt gehalten haben. Als ich mit reden aufgehört habe, hast du mich angeguckt und mir ein Lächeln, fast schon lachen, gezeigt. Du hast mich nicht für verrückt gehalten, du hast mit geredet. Wir saßen einfach da und haben ein bisschen über Einhörner philosophiert. Von da aus sind wir noch auf viele andere Themen gekommen. Irgendwann habe ich dich gefragt, ob sonst alle an dir vorbei gelaufen sind. "Zwei Leute haben mich gefragt, ob alles okay ist und einer hat mir ein Taschentuch gegeben." Ich weiß noch, wie ich mich gefragt habe, wie eilig es die Menschen an Bahnhöfen haben müssen, dass sie ein weinendes Mädchen nicht beachten. Du hast mir erzählt, dass die Menschen um dich herum dich immer angucken, weil du nicht der Norm entsprichst. Es beeindruckt mich echt, wie du über so etwas drüber stehst. Insgesamt hast du mich echt beeindruckt. Später als mein Zug kam und ich mich auf den Weg gemacht habe, hast du mir hinterher gerufen und gefragt, wie du mich erreichen kannst. Ich hab dir schnell meine Handynummer gegeben und bin dann zu meinem Zug gerannt. Nie mehr habe ich von dir gehört. Ich hoffe es geht dir gut, da wo du bist. Bleib dir weiterhin treu. Bleib stark. ♡

gez. das Mädchen vom Bahnhof

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