NIE WIEDER

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Vor ab eine Triggerwarnung. Wenn du magersüchtig bist oder dir das Leben nehmen willst, solltest du das vielleicht besser nicht lesen. Auch wenn es eine Wendung gibt...
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Ich weiß es. Ich weiß es seit dem Moment, in dem die Zeiger der Uhr auf 00:01 umgesprungen sind. Ich weiß, dass heute mein letzter Tag sein wird. Ich weiß es und verspüre bei dem Gedanken daran so gemischte Gefühle, wie man sie nur kurz vor seinem Tod haben kann. Ich will nicht sterben, ich will nur nicht mehr leben. Das ist kein Unterschied? Oh doch, sogar ein ganz gewaltiger! Ich habe Angst vor dem Tod, vor den Schmerzen und all dem Leid. Ich will einfach verschwinden, nicht sterben. Möchte unsichtbar sein. Möchte, dass das alles aufhört.
Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Habe nur stumm dagelegen und gehofft, dass vielleicht doch noch ein Wunder geschieht. Dass ich einfach einschlafe und nicht mehr aufwache. Dass ein Blitz in unser Haus einschlägt oder einfach die Welt untergeht. Dass ich es nicht selbst zu Ende bringen muss. Nein, ich will nicht sterben.
Ich seufze und quäle mich aus dem Bett. Es ist erst 4 Uhr morgens und somit eigentlich noch viel zu früh um aufzustehen, aber erstens werde ich sowieso nicht mehr schlafen können und zweitens will ich diesen letzten Tag genießen. Will ihn auskosten, bis in seine letzten süßen Sekunden.
Meine Beine brechen unter mir weg. Hoffentlich hat keiner den Knall gehört, mit dem ich zu Boden gehe. Seit Tagen habe ich keine Kraft mehr. Eigentlich kein Wunder.
Ich rappele mich auf und öffne die Schleife am Bund meiner Jogginghose. Sie rutscht über meine knochigen Hüften, gleitet meine Schenkel herunter und landet genau dort auf dem Boden, wo eben noch mein Körper lag. Ich sage bewusst „mein Körper" und nicht „ich", denn das, was ich im Spiegel sehe, wenn ich hinein schaue, bin definitiv nicht ICH. Es ist das, was das Leben aus mir gemacht hat. All der Schmerz. All das Leid. All die Tränen. Alles, was ich zu verstecken versuche. Alles, was ich nicht mehr sein will und morgen endlich auch nicht mehr sein werde.
Ich schlüpfe in eine weite Jeans und den Kaputzenpulli meines Vaters, den ich seit Tagen trage, in dem verzweifelten Versuch meinen mageren Körper zu verstecken. Ich will unsichtbar sein, wie Luft. Durchscheinend und federleicht. Und ich bin nah dran genau das zu sein. Seit Wochen arbeite ich daran das zu sein, was ich sein will: NICHTS. Ich esse so wenig wie möglich, drücke mich vor so vielen Mahlzeiten, wie es eben geht und laufe, statt den Bus zu nehmen. Ich war nie dick, aber ich wollte weniger sein. Weniger und immer weniger.
Alle sagen mir, wie dünn ich geworden sei, ich solle zunehmen und mehr essen. Sie sagen ich seie magersüchtig.
Ich seufze erneut und schleppe mich, wie jeden Morgen ins Badezimmer. Zur Waage. Als mein Gewicht in der Anzeige erscheint, muss ich unwillkürlich lächeln. Wieder ein halbes Kilo weniger, als gestern. Ich wiege mich nicht nur morgens. Auch mittags und abends und zwischendrin kontrolliere ich mein Gewicht. Es erfüllt mich mit Genugtuung, wenn es wieder weniger geworden ist. Ist es krank zu behaupten, es wäre das einzige in meinem Leben, auf was ich stolz sein kann? Ja, wahrscheinlich ist es das.
Ich betrachte mich im Spiegel. Das Lächeln weicht von meinem Gesicht und Hass mischt sich in meinen Blick. Ich habe Pickel, so viele, wie noch nie zuvor. Meine Augen, die früher immer bernsteinfarben gestrahlt haben, blicken traurig und müde drein. Unter den Augen habe ich dunkle Ringe. Ich sehe aus, als hätte ich ewig nicht geschlafen, was sogar mehr oder weniger stimmt. An guten Tagen bekomme ich fünf Stunden Schlaf, doch selbst wenn ich schlafe ist das nicht erholsam. Ich wälze mich von der einen Seite auf die andere und habe Albträume, in denen ich Pizza esse. Andere finden das nicht schlimm, aber für mich ist es Qual. In den Träumen steige ich auf die Waage und habe plötzlich wieder 20 Kilo mehr auf den Rippen. Im Schlaf weine oder schreie ich oft. Im Schlaf rede ich, obwohl ich das im echten Leben fast gar nicht mehr tue.
Halbherzig fahre ich mir mit den Fingern durch die Haare. Früher waren sie lang und voll. Sie haben goldblond geglänzt und waren weich. Wie Seide. Lang sind sie immer noch, aber unten haben sie keine Farbe mehr, sind durchsichtig, wie auch ich es sein möchte.
Ich betrachte das Büschel Haare, welches nun in meiner Hand liegt. Die Haare fühlen sich an wie Stroh. Ich werfe sie in den Müll, wo schon so viele Haare liegen, dass sie für eine ganze Perücke reichen würden. Beim Duschen ist es am Schlimmsten. Dann frage ich mich immer, wie es möglich ist, dass ich überhaupt noch Haare auf dem Kopf habe.
Ich greife nach meiner Haarbürste, die auf dem kleinen Schränkchen neben dem Spiegel liegt und kämme das, was von meinen Haaren übrig geblieben ist.
Beim Versuch sie zu einem Pferdeschwanz zu binden, breche ich mir einen Fingernagel ab. Auch meine Nägel sind nicht mehr das, was sie mal waren. Sie sind überhaupt nicht fest und brechen andauernd ab.
Ich seufze zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag, gebe es auf und lasse meine Haare einfach offen. Nachdem ich mit etwas Concealer mehr oder weniger erfolgreich meine Pickel abgedeckt habe, mustere ich mein Spiegelbild erneut. Nichts, absolut nichts hat sich verändert. Das Mädchen, welches mich vom Spiegel aus anstarrt ist nun nicht mehr zerzaust und sieht etwas weniger aus, wie ein Streuselkuchen. Trotzdem kann ich sie nicht hübsch finden. Sie wirkt halb tot. Ist blass, wie eine Leiche. Das bin einfach nicht ich.
Ich hebe meine Hand. Das Mädchen im Spiegel tut es mir gleich. Ihre traurigen Augen folgen meinem Blick. Ich bin sie. Da besteht kein Zweifel. Wie kann es sein, dass man sich selbst  so wenig mit sich selbst identifizieren kann? Wie kann es sein, dass man sich selbst ansieht und nichts als Hass und Traurigkeit empfindet? Wie kann es sein, dass ich zu diesem Mädchen dort geworden bin?
Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit so dagestanden und mir einfach nur selbst in die Augen gestarrt habe, reiße ich mich von dem Anblick los. Ich schiebe den Kragen meines Pullis soweit herunter, dass mein Schlüsselbein zum Vorschein kommt und lächele nun wieder. Meine Haut spannt sich über den Knochen, der spitz wie ein Berg herausragt. So muss es sein, so ist es richtig. Es zeigt mir, wie nah ich an meinem Ziel dran bin. Es zeigt mir, dass nicht mehr viel fehlt. Bald bin ich nichts. Doch dann fällt mir ein, dass ich nie dazu kommen werde nichts zu werden, denn es ist schließlich mein letzter Tag.
Wieder seufze ich, lasse den Kragen des Pullis los und streiche über den Knochen, welcher sich nun unter dem dicken Stoff verbirgt.
Dann steige ich auf die Waage und stelle erleichtert fest, dass ich noch genauso viel wiege, wie beim letzten Mal. Erst danach verlasse ich das Badezimmer und schleiche leise durch den Flur, um niemanden zu wecken.
In meinem Zimmer angekommen ziehe ich das Notizbuch hervor, welches ich unter meiner Matratze verstecke. Ich schlage eine neue Seite auf und schreibe „7.September" auf die oberste Zeile. Darunter die Urzeit und mein Gewicht. Ich schlage das Buch zu und schiebe es wieder zwischen Matratze und Bettgestell.
Dann lege ich mich auf den Boden. Ich mache ein paar Sit-ups und Crunches. Anschließend drehe ich mich auf den Bauch und hebe Hände und Füße an. Meine Hüftknochen bohren sich in den Teppich unter mir. Es tut weh, aber das ist mir egal. Ich höre nicht auf. Im Gegenteil. Ich freue mich über den Schmerz, denn er zeigt, dass ich noch lebe.
Nachdem ich meine Sportübungen beendet habe, setze ich mich erschöpft aber doch zufrieden aufs Bett. Ich schnappe mir mein Handy und trage die verbrannten Kalorien in meine App ein. Dann checke ich meine Nachrichten und stelle fest, dass meine beste Freundin mir geschrieben hat. Wir haben die erste Stunde frei und sie will mit mir frühstücken gehen. Sie schreibt, es würde mir gut tun mal wieder rauszukommen. Ich vermisse sie, doch so gerne ich mich auch mit ihr treffen wollen würde, es geht nicht. Dann müsste ich etwas essen. Mittlerweile bin ich gut darin geworden glaubwürdige Ausreden zu finden. Also schreibe ich ihr, dass es mir leid tut, aber dass meine Mutter gerne mit mir frühstücken will. Sie glaubt mir und ist nicht sauer.
Ich lasse mich nach hinten aufs Bett fallen und starre durch mein Dachfenster den Himmel an. Ich beobachte wie nach und nach alle Sterne verschwinden, wie sich der Himmel rosarot färbt und wie die Sonne langsam aufgeht.
Als es Zeit zum aufbrechen wird, versuche ich so leise wie möglich die Treppe hinunter zu steigen und lasse absichtlich eine Stufe aus. Es ist die, die knarzt.  Unten angekommen schreibe ich meiner Mutter einen Zettel, dass ich mit Chrissie zum frühstücken verabredet bin, hieve mir meinen Rucksack auf den Rücken und verlasse das Haus.
Es ist warm draußen. Viel zu warm eigentlich für den dicken Pulli meines Vaters und trotzdem friere ich. Ich zittere richtig, aber ich achte nicht darauf. Bei jedem Schritt drücken die Riemen meines Rucksacks auf meine Schulterknochen, aber auch das ist mir egal. Normalerweise fahre ich mit dem Bus zur Schule, aber sooft es eben geht vermeide ich das aus mehreren Gründen. Erstens dauert der Weg zu Fuß eine gute Dreiviertelstunde, was echt viele Kalorien verbrennt und zweitens habe ich keine Lust im vollen Bus von jedem angestarrt zu werden. Die Leute gucken, weil sie denken ich wäre krank, weil ich so blass und zerbrechlich aussehe und weil sie vermutlich denken ich würde ihnen gleich an die Gurgel gehen oder anfangen zu weinen.
Beim Laufen höre ich Musik. Das macht den Kopf frei und ich fühle mich eigentlich nur mit Kopfhörern in den Ohren wirklich wohl. Dann sind meine Gedanken nicht mehr so laut. Wenn ich nämlich keine Musik höre schreien sie mich an. Es gibt in meinem Kopf mehrere Parteien. Die eine schreit, dass ich eigentlich essen will und dass der Apfelkuchen den Mama gebacken hat so unglaublich lecker aussieht. Die andere brüllt, dass ich dann nie an mein Ziel kommen werde. Dass ich fett werde und das ich doch unsichtbar werden will. Engel und Teufel kämpfen in meinem Kopf und ich stehe dazwischen und weiß nicht, was ich tun soll.
Während des gesamten Weges halte ich den Kopf gesenkt. Weder will ich jemanden sehen, noch will ich gesehen werden. Mit der Kapuze über dem Kopf und dünn wie ich eben bin haste ich durch die Straßen und Gassen der Stadt. „Bloß. Nicht. Gesehen. Werden.", hämmert es wie ein Mantra in meinem Kopf. Ich drücke mich in alle Nischen, in die man sich drücken kann. Mache mich so klein, wie es irgendwie geht. Bin ein Schatten meiner selbst.
Wann immer ich ein Schaufenster passiere, welches mein Spiegelbild wiedergibt, schaue ich weg. Ich will das nicht sehen. Will das Mädchen dort einfach nicht sehen. Das Mädchen, zu dem ich geworden bin. Es tut zu sehr weh.
Kurz bevor ich an der Schule ankomme, laufe ich an einer Bäckerei vorbei. Früher habe ich mir dort oft ein Schokocroissant gekauft. Aber das war früher. Heute versuche ich nicht in die Auslade zu sehen. Versuche all die Leckereien, die Doughnuts und Tortenstücke, die belegten Brötchen und Waffeln zu ignorieren. Der eine Teil meines Gehirns schreit ich solle in den Laden gehen und einfach mal genießen. Der andere Teil brüllt ich müsse vorsichtig sein, denn ich könne schon von dem köstlichen Duft dort zunehmen. Ich schüttele den Kopf, drehe die Lautstärke meiner Musik lauter und renne die letzten Meter bis zur Schule beinahe.
Dort angekommen werde ich von meiner besten Freundin Chrissie empfangen. Sie umarmt mich und ich kann in ihrem Blick erkennen, wie unangenehm ihr das ist, obwohl sie es zu verstecken versucht. Es ist ihr unangenehm, weil sie all die hervorstehenden Knochen unter sich spüren kann, weil sie Angst hat, dass ich zerbrechen könnte, wenn sie ein bisschen zu fest drückt.
„Hey", sagt sie und sieht mich an. Ich erkenne, wie viel Angst sie um mich hat. Sehe all den Schmerz, den ich auch ihr mit meinem Verhalten zufüge. Ich weiß, dass sie Angst hat, mich zu verlieren. Und diese Angst kommt nicht von ungefähr. Ich hatte schon viele letzte Tage, an denen ich es dann aber doch nicht übers Herz gebracht habe, mich umzubringen. Aber heute wird es definitiv mein letzter letzter Tag sein. Das weiß ich. Ich versuche mir ihr Aussehen ganz genau einzuprägen. Versuche sie in jede meiner Poren aufzunehmen. Es ist das letzte Mal, dass ich sie sehe. Das allerletzte Mal.
Ich räuspere mich. Ich rede viel zu selten, meine Stimme ist eingerostet und das, obwohl ich früher ohne Punkt und Komma reden konnte. Aber das war eben früher und jetzt bin ich kaputt. Zu kaputt zum reparieren.
„Hey", krächze ich und meine Stimme klingt, wie etwas, was seit dreißig Jahren auf einem Schrottplatz vor sich hin gammelt.
Eine Träne rollt meine Wange hinab. Nur eine einzige. Doch dieses bisschen Wasser zeigt mehr Gefühle, als tausend Worte es beschreiben könnten. Ich weine nie. Trage immer nur meine Maske. Seit Wochen habe ich sie nicht mehr abgenommen. Ich habe jeden denken lassen, alles wäre okay, obwohl es das definitiv nicht war. Nicht ist. Und auch nie mehr sein wird. Ich bin gut darin allen etwas vorzuspielen. Über die Zeit lernt man, wie man Worte und Blicke einsetzen muss, um glücklich oder wenigstens nicht traurig zu wirken.
Chrissie wischt diese eine Träne, die so viel bedeutet von meiner Wange und drückt mich erneut an sich. „Oh Süße", flüstert sie in mein Haar. Sie hält mich einfach nur fest und das ist genau das, was ich jetzt brauche. Keine Worte, einfach nur Halt.
Chrissie ist der einzige Mensch, den ich vermissen werde, wenn ich endlich nicht mehr bin. Denn obwohl sie den Körper des Mädchens hält zu dem ich geworden bin, weiß sie doch, dass ICH da noch  irgendwo ganz tief drin bin. Mein wirkliches ich. Das selbstbewusste Mädchen, dass viel lacht und redet. Das Mädchen, in das sich alle Jungs verlieben, wegen ihrer tollen grünen Augen und goldenen Haaren. Wegen ihrer tollen Figur. Schlank mit Kurven an den richtigen Stellen und auf gar keinen Fall zu dünn.
All diese tollen Eigenschaften hat das Mädchen zu dem ich geworden bin verloren. Und trotzdem ist es mir das wert, um NICHTS zu werden. Ich weiß, dass das was ich tue richtig ist und trotzdem fühlt es sich so falsch an. So verdammt falsch.
Jetzt fange ich hemmungslos an zu weinen. Ich schluchze und immer mehr Tränen strömen aus meinen Augen, die zum ersten Mal seit Langem wieder glänzen. Doch nicht vor Glück, sondern vor Trauer.
Ich hasse mich. Nein das ist falsch. Ich hasse nicht mich, nur dieses Mädchen das ich jetzt zu sein scheine.
Mir wird schlecht. Ich löse mich von Chrissie und renne zum Mädchenklo. Dort übergebe ich mich, was eigentlich gar nicht möglich ist, weil ich ja gar nichts zu mir genommen habe. Mein Magen ist leer. Was ich da erbreche ist nur Wasser. Sie bleibt die ganze Zeit bei mir und hält meine Haare, während ich würge und huste und mich immer wieder in die Kloschüssel übergebe. Solange, bis ich wirklich ganz leer bin und nicht einmal mehr ein Tropfen Wasser in mir drin ist.
Plötzlich drängen mehrere Schülerinnen in die Toilette. Es ist Pause. Wir haben die ganze zweite Stunde verpasst. Geschockt sehe ich Chrissie an, doch sie gibt mir zu verstehen, dass es nicht schlimm ist. Ohne Worte. So war das schon immer zwischen uns. Wir verstehen uns mit Blicken, müssen absolut nicht reden und sagen trotzdem so viel. Gott, wie ich sie in diesem Moment liebe.
Die folgenden vier Schulstunden ziehen an mir vorbei, als wäre ich im Rausch. Alles wirkt verschwommen. Mein Mund ist trocken und meine Zunge fühlt sich pelzig an. Ich habe Chrissies Angebot mich nach Hause zu bringen ausgeschlagen, da es nicht geht. Wir haben heute bis halb fünf Schule, was bedeutet, dass ich es schaffen kann, nicht zu Mittag zu essen. Wenn ich nach Hause ginge, müsste ich etwas essen, das weiß ich. Also versuche ich einfach nicht umzukippen. Mir ist immer noch schlecht, aber es besteht keine Gefahr, dass ich mich übergebe, denn es gibt schließlich nichts, was noch aus mir rauskommen könnte. Chrissie bleibt die ganze Zeit bei mir, wofür ich ihr unglaublich dankbar bin.
In der Mittagspause schleppt sie mich in ihre Lieblingspizzeria, die früher auch meine war.
Ich brauche ihr nichts mehr vorzuspielen. Sie weiß, dass ich keine Pizza essen werde. Stattdessen hält sie mir einen Schokoriegel hin. Der hat zwar deutlich weniger Kalorien, als eine Pizza, aber trotzdem zu viele. Zumindest für mich. Ich schüttele also den Kopf und murmele irgendetwas von „keinen Hunger". Das ist definitiv gelogen. Mein Magen knurrt schon nicht mehr, aber er krampft sich bei jeder Bewegung schmerzhaft zusammen. Das ist oft so. Aber immer kann ich ihn mit Gemüsebrühe oder ein paar Himbeeren beschwichtigen.
„Schön", sagt Chrissie „wenn du nichts essen willst, kaufe ich dir eben eine Cola" Sie kann verdammt stur sein. Trotzdem starte ich einen schwachen Versuch. „Light", sage ich flehend, doch sie schüttelt den Kopf und geht.
Eine Minute später steht ein Glas Cola vor mir. Nicht light. Ganz normale Cola. Mit furchtbar vielen Kalorien. Ich versuche meine Angst zu verbergen, aber ich weiß, dass ich wahrscheinlich noch blasser bin, als sonst.
Chrissie starrt mich an. Ich starre das Glas vor mir an. Ich kann das nicht. Und das weiß sie ganz genau. Sie stellt mich vor die Wahl. „Cola oder Schokoriegel", sagt sie und verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust. Zögernd greife ich zu dem Schokoriegel. Langsam, ganz langsam packe ich ihn aus. Dann schiebe ich ihn mir in den Mund, kaue und schiebe mir den klebrigen Brei in die Wangen. Dann stürze ich zum Klo und spucke die Pampe ins Wachbecken. Ich spüle mir den Mund aus, versuche den süßen Geschmack zu vertreiben, welcher sich schon auf meiner Zunge ausgebreitet hat. Ich habe kein einziges bisschen Schokolade heruntergeschluckt und habe trotzdem ein schlechtes Gewissen. Das hätte ich nicht tun dürfen. Ich hätte stark sein müssen. Verdammt.
Ich stütze mich auf den Rand des Waschbeckens und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Ich schluchze, aber ich weine nicht. Es fließen keine Tränen. Ich stoße mich ab und blicke in den Spiegel über dem Waschbecken. Blicke in diese Augen, die nicht meine sind und habe keine Ahnung wem sie wirklich gehören.
Als ich zurück komme sieht Chrissie mich anklagend an. Sie ist enttäuscht. Sie weiß es. Wieso kennt sie mich nur so gut? Doch obwohl sie es weiß verurteilt sie mich nicht. Denn sie weiß, dass das nicht ich bin, sondern das Mädchen zu dem ich geworden bin.
Die restlichen Schulstunden reden wir nicht miteinander, aber das ist nicht schlimm. Es ist besser so. So kann sie mir keine Vorwürfe machen.
Nach der Schule umarmen wir uns nicht. Sie geht einfach. Und ich werde sie nie wieder sehen, denn heute ist schließlich mein letzter letzter Tag.
Als ich nach Hause komme, ist niemand da. Meine Mutter muss nachmittags immer arbeiten und mein Vater arbeitet sowieso den ganzen Tag.
Sobald ich die Tür aufgeschlossen habe, lasse ich meinen Rucksack fallen und renne die Treppe hoch ins Badezimmer. Ich wiege mich. Ich habe seit heute morgen 100 Gramm abgenommen. Das ist zwar besser als nichts, aber trotzdem nicht viel. „Dieser gottverdammte Schokoriegel", zische ich und verfluche mich selbst. Ich bin mir sicher, dass es daran liegen muss.
In meinem Zimmer krame ich das Notizbuch aus seinem Versteck und schreibe erneut sowohl Gewicht, als auch Uhrzeit auf. Eigentlich ist es unnötig, dass ich das aufschreibe, da es eh mein letzter letzter Tag ist.
Nachdem das Buch wieder verstaut ist, werfe ich mich aufs Bett und presse mein Gesicht ins Kopfkissen. Dann schreie ich. Schreie all meinen Frust heraus. Beiße in das Kissen und schreie meinen gottverdammten Frust heraus.
Ich setze mich auf und kralle die Fingernägel meiner rechten Hand in meinen linken Unterarm. Der Schmerz tut gut. Ich mag Schmerzen. Sie zeigen mir, dass ich noch lebe.
Ich lasse mich nach hinten fallen und betrachte, wie die Sonne untergeht, wie der Himmel sich rosarot färbt und wie die Sterne nach und nach auftauchen. Wie heute morgen, nur rückwärts.
Als es dunkel ist stehe ich auf und schäle mich aus Jeans und Kapuzenpulli. Stattdessen schlüpfe ich in mein weites Schlafshirt und die Jogginghose. Ich ziehe an den Bändern der Hose und binde eine Schleife. Es ist eine sehr große Schleife, weil ich sehr dünn bin und sehr viel Band übrig ist, wenn die Hose nicht über meine Hüftknochen nach unten rutschen soll.
Ich schaue in den großen Spiegel an meinem Kleiderschrank. So viele Menschen sagen, ich seie magersüchtig, aber das bin ich nicht. Ich habe mal gehört, dass man ein total falsches Körperbild hat, wenn man magersüchtig ist. Die Mädchen mit Magersucht schauen in den Spiegel und denken, sie wären dick, obwohl sie total dünn sind. Demnach kann ich nicht magersüchtig sein. Ich weiß ja, dass ich dünn bin, aber ich finde das gut. Würde ich nicht heute noch sterben, wäre ich bald am Ziel, ich wäre bald nichts.
Im Internet suche ich nach einem guten Cardiotraining bei dem man möglichst viele Kalorien verbrennt und trainiere eine Stunde.
Danach schlurfe ich nach unten in die Küche. Ich bin völlig fertig und habe solchen Hunger.
Ich nehme eine Packung Himbeeren aus dem Kühlschrank, öffne sie und lege mir vier der Beeren auf die Handfläche. Den Rest der Packung werfe ich in den Müll. Meine Eltern sollen denken, ich hätte die ganze Packung gegessen.
Mit dem Zeigefinger der freien Hand schiebe ich die Beeren hin und her. Plötzlich habe ich gar keinen Hunger mehr. Das Essen widert mich an und es scheint unmöglich die Himbeeren in den Mund zu nehmen und zu kauen. Sie dort zu schmecken, wo heute Mittag die Schokolade war.
Kurzerhand werfe ich sie zu den anderen Beeren in den Müll und fühle mich stark. Ich habe es geschafft zu widerstehen. Und das macht mich stolz.
Ich gehe wieder nach oben und lege mich auf mein Bett. Ich bin unendlich müde, deshalb stelle ich mir einen Wecker auf 23 Uhr. Ich schlafe sofort ein. Habe Albträume. Wälze mich von der einen Seite auf die andere. Weine und schreie im Schlaf. Wache auf.
Es ist eine Minute bevor mein Wecker klingeln wird. Ich warte. Zähle die Sekunden. Obwohl ich wusste, dass der Wecker gleich klingeln würde, erschrecke ich mich so, dass ich aus dem Bett falle. Ich bringe ihn zum schweigen und schleiche ins Bad.
Aus dem Medizinschränkchen hole ich die Packung Schmerztabletten und lege mir Tablette für Tablette auf die Handfläche, auf der auch die Himbeeren gelegen haben. Ich zähle flüsternd mit. Es sind achtundzwanzig Tabletten. Der Gedanke sie zu schlucken macht mir Angst.
Im schwachen Schein des Deckenlichts mustere ich das Mädchen ein letztes Mal im Spiegel.
Die Augen, die Haare, die Haut.
Das Mädchen zu dem ich geworden bin.
Ich schließe die Augen und sehe mich.
Die  Augen, die Haare, die Haut.
Das Mädchen, welches ich einst war.
„Das Mädchen das du wieder sein willst!", schreie ich in meinem Kopf. Ja wirklich, ich höre meine Stimme.
„Lass es nicht noch einen dieser letzten Tage werden. Bring es zu Ende", brüllt eine Stimme, die meiner ähnlich ist, aber doch einen Tick anders klingt.
Und plötzlich wird mir einiges klar.
Ich öffne die Augen. Das, was ich vor mir sehe, ist das Mädchen zu dem ich geworden bin. Das Mädchen, zu welchem mich die Krankheit gemacht hat. Die Magersucht. Ich bin magersüchtig. Die Stimme in meinem Kopf. Das war die Magersucht.
Mit der Fingerspitze berühre ich das Mädchen im Spiegel. Ihre Fingerspitze an meiner.
„Du bist nicht ich. Das warst du nie!", wispere ich.
Ich spiele mit den Tabletten in meiner Hand, wie zuvor mit den Himbeeren. Bei den Himbeeren war ich stark und jetzt kann ich das auch! Ich weiß es.
Erneut schließe ich die Augen. Bilder meines alten Lebens pochen unter meinen Liedern, mein Herz schlägt wie wild gegen die hervorstehenden Rippen. Ich keuche. Habe nur noch einen Wunsch im Kopf. Nur noch eine Partei die schreit. Die andere scheint besiegt.
Die Stimme in meinem Kopf brüllt „Hol Dir dein Leben und dich selbst zurück. Du liebst dein Leben, wirf es nicht weg, lebe es!"
Nein, ich werfe mein Leben nicht weg. Dafür landen aber die Tabletten im Müll. Genau so, wie zuvor auch die Himbeeren. Ich bin stark. Ich will leben. Ich kann das.
Zum ersten Mal seit langem kann ich mich selbst in dem Mädchen im Spiegel erkennen. Die Augen leuchtend vor Hoffnung, die Wangen gerötet. Zum ersten Mal seit langem sieht das, was im Spiegel vor mir steht lebendig aus. Und das bin ich auch zum Glück noch. Lebendig. Ich bin nicht zum Selbstmörder geworden. Zum ersten Mal seit langem bin ich stolz auf mich, wegen etwas, was nicht mit Gewicht zu tun hat.
Ich stelle mich auf die Waage, aber nur, um dieses Gewicht von nun an Tag für Tag zu überbieten, bis ich mein altes ICH zurück habe. Bis ich MICH zurückhabe. Ich weiß, dass es nicht einfach wird, aber ich weiß auch das ich noch tief drin stecke in diesem Mädchen zu dem ich geworden bin. In dem Mädchen was ich nie wieder sein will und werde.
Ich gehe in mein Zimmer, hole das Notizbuch aus seinem Versteck und reiße Seite für Seite heraus. Zahlen und Daten verschwimmen vor meinem Auge zu zwei Wörtern. NIE. WIEDER.
Ich schwebe förmlich ins Wohnzimmer, beflügelt von neu gewonnener Lebensfreude. Ich schnappe mir ein Feuerzeug und stürme hinaus in die sternenklare Nacht. Draußen zünde ich jede Seite einzeln an und lasse sie abbrennen. Die Asche werfe ich in den kleinen Teich in unserem Garten. „Nie wieder", flüstere ich und dann rufe ich die zwei Wörter in die Nacht hinein. „NIE WIEDER!", ich drehe mich und das für meinen schmalen Körper viel zu große Schlafshirt dreht sich mit mir. Ich lache. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten.
Dann renne ich wieder rein und hole mir ein Stück von Mamas Apfelkuchen. Und ich esse das ganze Stück. Ohne eine Spur von schlechtem Gewissen. Im Gegenteil. Ich genieße es.
Als ich wieder im Bett liege, springen die Zeiger der Uhr auf  00:01. Schon verrückt, was sich in nur einem Tag ändern kann. Ich schwöre mir, dass es nur noch einen letzten Tag geben wird und zwar den, an dem ich nach einem erfüllten Leben auf natürliche Weise sterbe. Und ich schwöre mir immer ich selbst zu bleiben und nie mehr das Mädchen zu werden, zu dem ich gemacht wurde.
Beim einschlafen denke ich zwei Worte:
NIE WIEDER
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~4476 Wörter

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