ENGEL&TEUFEL

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Wir sitzen auf dem Dach. Meine Haare wehen mir in die Augen und ich streiche sie mit den Fingern wieder hinter meine Ohren. Ich blicke auf und sehe, dass es ihr genau so geht.
„Du bist dran", sagt sie und deutet mit ihrem Finger auf das Schachbrett vor uns auf dem Tisch. Ich rücke meinen Turm vor. Er ist weiß. Wie immer.
Seit wir fünf sind spielen wir gemeinsam Schach. Ich und meine beste Freundin Demone. Und ich habe jedes einzelne Mal mit den weißen Figuren gespielt. Sie mit den schwarzen.
Sie hat langes schwarzes Haar und gebräunte Haut. Ihre Konturen sind kantig. Ihre Augen haben eine unglaubliche Tiefe und doch verraten sie nichts. Auch sie sind schwarz und werden umrahmt von langen dunklen Wimpern. Ich wollte immer aussehen, wie Demone.
Im Gegensatz zu ihr bin ich blass. Beinahe durchscheinend. Ich habe hellblondes, dünnes Haar und blaue Augen. Nicht dieses tolle meeresblau, nein. Blassblaue Augen und blonde Wimpern. Mein Gesicht ist eher rund.
Somit ist es wohl logisch, wie die Farbverteilung zu Stande gekommen ist. Ich habe nicht dieses magische an mir, wie sie.
„Angela?", fragt sie und reißt mich aus meinen Gedanken. „Du musst dich konzentrieren. Du weißt, worum es hier geht."
Allerdings weiß ich das. Die Idee ist uns gekommen, als wir gemeinsam vor dem Spiegel standen. An Karneval war das. Sie war als Teufel verkleidet. Ich als Engel.
Demone, das ist Italienisch. Teufel.
Angela auch. Mein Name bedeutet Engel.
Als hätten unsere Eltern sich abgesprochen.
Und das, obwohl wir unsere Eltern nicht kennen. Wir leben im Waisenhaus.
Jedenfalls hat Demone da etwas gesagt, als wir vor dem Spiegel standen.
„Schwarz der Tod, weiß das Leben. Weiß beginnt, schwarz gewinnt", hat sie gemurmelt.
Die Idee mit dem Schach kam dann aber von mir.
Seitdem sitzen wir jeden Abend auf dem Dach des Waisenhauses und spielen Schach. Wenn ich gewinne passiert nichts. Leben. Falls sie gewinnen sollte, springen wir vom Dach. Tod.
Seit ich denken kann, habe ich gegen sie gewonnen. Nie verloren. Und es sieht nicht so aus, als ob sich das irgendwann ändern würde.

Heute ist wieder Karneval. Sie hat ihr Teufelskostüm. Ich gehe, wie jedes Jahr, als Engel. Demone wirft meinen Turm raus. Sie lacht. Heute ist sie gut. Besser als sonst.
Nach und nach verschwinden immer mehr weiße Figuren vom Brett.
„Schwarz der Tod. Weiß das Leben", schießt es mir durch den Kopf. Auf meiner Stirn bildet sich Angstschweiß. Meine Hände werden feucht.
Eine weiße Figur folgt der Nächsten...bis keine mehr übrig ist. Demone wirft meinen König raus und fegt ihn triumphierend vom Schachbrett.
„Weiß beginnt. Schwarz gewinnt", flüstert sie. Wir wissen beide, was das jetzt bedeutet. Doch ihr scheint es keine Angst zu machen. Mir schon. Ich habe solche Angst, wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Wie in Trance gehen wir auf den Abgrund zu. Schritt für Schritt kommen wir näher heran. Näher heran an den Tod. Ich zittere. Werde langsamer. Blicke auf die funkelnden Lichter der Stadt hinab.
„Sicher, das wir das tun sollten?", frage ich, in der Hoffnung Demone würde nein sagen. Doch sie nickt. Entschlossenheit liegt in ihrem Blick.
Ich frage mich, warum wir das hier tun. Wir werden sterben. Wegen einer dummen Idee.
„Auf drei!", ruft sie. „Eins. Zwei. Drei.", doch auf drei springt keiner von uns beiden.
„Ich...ich kann das nicht.", stammele ich.
„Doch, du kannst!", schreit sie gegen den Lärm an, den die Straßenbahn erzeugt, die so eben zu unseren Füßen den Bahnübergang passiert.

Ich hole tief Luft und hebe die Arme. Meine Engelsflügel zeichnen sich ab, vor dem dunklen Himmel der Nacht. Ein weißer Fleck in der unendlichen Weite des Universums.
Wie von weit entfernt höre ich Demones Stimme. Sie flüstert mir ins Ohr. „Eins.Zwei.Drei." Dann spüre ich einen Stoß am Rücken. Demone hat mich gestoßen. Ich stürze auf all die Lichter zu. Ich sehe ihr Gesicht. Sie lacht. Sie grinst höhnisch. Ihre spitzen Hörner recken sich gen Himmel. Wie konnte sie das tun? Wieso will sie dass ich sterbe? Eine Träne kullert meine Wange hinab. Die Lichter verschwimmen.
Ich falle weiter...und plötzlich falle ich nicht mehr. Ich schwebe. Ich segele zu Boden. Komme sanft auf. Meine Flügel flattern ein letztes Mal, dann verschwinden sie.
Oben am Abgrund steht Demone. Sie schaut mich an. Hasserfüllt. Ich lächele. Sie löst sich in Luft auf. Zerfällt zu schwarzem Staub.
Ich habe den Tod überwunden. Den Teufel besiegt. Ich bin ein Engel.
Schwarz der Tod. Weiß das Leben. Schwarz oder Weiß, du selbst bestimmst!
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In diesem Sinne...ihr könnt alles schaffen und den Teufel besiegen!
Anbei ein Spruch der passend ist:
Wir alle haben Flügel. Bei dem einen oder anderen sind sie nur etwas verdreckt

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