ICH WILL IHN NICHT

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Vorab eine kleine Triggerwarung! Wenn du psychische Probleme hast oder dich umbringen willst, solltest du das vielleicht lieber nicht lesen.
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„Sag es!", versucht sie mich nun schon zum dritten Mal dazu zu bringen, ihr nachzuplappern, wie ein elendiger Papagei. Zu wenig Mensch, um eigene Worte zu fassen. Zu wenig Tier, um stumm zu bleiben.
„Ich. Bin. Nicht. Verrückt.", stammele ich widerwillig und bei mir klingt es, als wäre jedes Wort ein einzelner Satz. Als wäre jedes Wort eigenständiger, als ich es jemals sein werde.
„Siehst du!", ruft sie und sieht mich triumphierend an. Sie wirft die Hände in die Luft und lächelt so breit, dass ich Angst habe, ihr gleich bis in den Rachen sehen zu können.
Sie denkt, dass sie mir mit dieser Art von Sitzungen hilft, doch das Gegenteil ist der Fall.
Wenn ich ihr gegenübersitze und die Papageien-Nummer abziehen muss, fühle ich mich noch verrückter, als ich es sowieso schon bin.
Kein normaler Mensch muss Bälle auf Stühle schleudern und dabei so tun, als wären es bestimmte Menschen. Niemand muss stundenlang über Probleme reden, die es gar nicht gibt. Niemand wird gezwungen wildfremde Menschen anzurufen und nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Niemand, außer mir. Und natürlich allen anderen verrückten Menschen auf dieser Welt.
Sie sagt mir immer, ich seie nicht verrückt, nur eben zur Zeit mental nicht ganz stabil. Das Problem ist, dass ich sie durchschaue. Das ist genau so, wie wenn man einer Köchin sagt, dass etwas interessant schmeckt. In Wirklichkeit schmeckt es furchtbar. Genauso, wie wenn man sagt, dass alles okay ist. In Wirklichkeit ist es das ganz und gar nicht. Genauso, wie wenn man sagt, dass es egal ist, was man gerade gesagt hat. In Wirklichkeit ist es sogar sehr wichtig. Naja und genauso ist das auch mit dem mental nicht ganz stabil sein. In Wirklichkeit ist man eben verrückt. In Wirklichkeit bin ich eben verrückt. Eine Irre. Ein Psycho. Die Alte, die später allein in einer zugemüllten Wohnung hocken wird. Lediglich in der Gesellschaft von zwölf oder dreizehn Katzen. Aber das will ich nicht sein. Ich mag Katzen noch nicht einmal besonders. Und das ist untertrieben. Ich fürchte mich vor den Viechern, wie sich die Maus vor der Katze ängstigt oder Rotkäppchen vorm bösen Wolf.
Als ich fünf war hat mich eins der kleinen Monster gebissen. Ich erinnere mich daran, als ob es gestern gewesen wäre. Es war genau genommen gar keine Katze, sondern ein Kater. Er hatte grau getiegertes Fell und grüne Augen. Ich habe mit ihm geschmust. Es war der Kater meines Vaters. Jetzt ist er das nicht mehr. Nachdem es passiert war und ich eine gottverdammte Blutvergiftung davon getragen hatte, hat er das Tier einschläfern lassen. Danach hatte ich ein total schlechtes Gewissen. Ich meine, Milo ist meinetwegen gestorben. Ich war schuld und ich habe mich gefühlt, wie ein Mörder, auch wenn es ja gar nicht ich war, die den Pfeil mit dem Serum abschoss. Das war der Tierarzt. Aber in diesem Moment fühlte ich mich einfach schuldig. Mein unschuldiges Kinderherz, welches das alles nicht verstand, fühlte sich schuldig.
Nun ja, zehn Jahre nachdem Milo von uns gegangen war, tat mein Vater es ihm gleich. Auch er war wegen mir gestorben. Hatte sich für mich aufgeopfert.
Das ist jetzt ein Jahr her, aber als ich nun die Augen schließe, sehe ich es genau vor mir.
Ich, wie ich mit meinem Fahrrad die Straße überqueren will. Ich, wie ich mitten auf der Straße bin. Das Auto, der feuerrote Sportwagen, wie er auf mich zu rast. Ich, wie ich schreie. Der Fahrer, wie auch er schreit. Und dann mein Vater, mein Held. Er hechtet durch das geöffnete Fenster des Autos und reißt das Lenkrad herum. Er wird gegen die Scheibe geschleudert. Sie zerbricht. Die Scherben fliegen durch die Luft und bohren sich in meine Haut. Die Narben habe ich heute noch, aber ich lebe. Mein Vater nicht. Im Krankenhaus ist er an seinen Wunden gestorben. Meinetwegen. Hätte ich besser aufgepasst, wäre er noch am Leben und statt ihn jeden Montag auf dem Friedhof zu besuchen, würde ich jeden Abend mit ihm auf der Couch sitzen und die Nachrichten schauen. Wir würden uns über all die Scheisse aufregen, die in der Welt passiert. Genau so, wie früher. Wir würden uns eine Familienpackung Vanilleeis teilen. Glücklich futtern und vor uns hin schmatzen. So, wie früher. Er würde mir fast täglich unter die Nase reiben, dass ich immer noch keinen Freund habe und Jungfrau bin. Und ich würde ihn spielerisch in die Seite knuffen. So, wie früher. Und wenn ich schon im Bett läge und mir die Decke bis zur Nasenspitze hochzöge, würde er das Licht ausknipsen und flüstern: „Schlaf gut, mein viel zu artiges Mädchen und träume mal was Unanständiges". So, wie früher.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 08, 2019 ⏰

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