16. Ashley

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Ich wache am nächsten Tag mit dröhnendem Kopf auf. Keine Ahnung, ob es an dem Alkohol liegt oder daran, dass ich so viel geweint habe.
Es ist mittlerweile hell und angenehm warm in meinem Zimmer.
Neben mir liegt Aurelio, der leise in eines meiner Kissen schnarcht.
Als ich mich aufgerichtet habe, prasseln die Ereignisse des vergangenen Abends erst richtig auf mich ein und mein Magen zieht sich zusammen.
Wie soll ich das denn bitte meinem Vater erzählen? Sollte ich es ihm überhaupt erzählen? Soll das irgendwer wissen? Interessiert es überhaupt irgendwen...?

Das warme Wasser prasselt auf meine verspannten Schultern, als ich unter der Dusche stehe. Meine Gedanken fahren Karussell und ich wünsche mir so sehr, dass ich sie einfach ausschalten könnte. Für einen kurzen Moment nichts denken.
Ich werfe meinen Kopf in den Nacken und das Wasser fließt über mein Gesicht.
Meine Depressionen liegen hinter mir. Ich will nicht noch einmal in solch ein Loch fallen.
Ruckartig stelle ich das Wasser aus, ziehe das weiße Handtuch von der Stande, trockne mich flüchtig ab und wickle mich darin ein.

Ich schlüpfe wieder in meine Klamotten, die ich gestern Abend angezogen habe, und meine Hausschuhe. 
Müde schwanke ich durchs Zimmer und versuche nicht allzu laut zu sein, damit Aurelio noch schlafen kann. Wir haben gestern Abend geredet... sehr lange. Es war am Anfang ungewöhnlich mit ihm meine Gedanken zu teilen, aber er ist mein Bruder und hat sich wirklich um mich gesorgt. Manuel hätte dasselbe getan, aber er hatte Lisa da und... ich bin ihm deswegen nicht böse.
Leise öffne ich meine Tür und trete ins Foyer.
Mein Vater schaut mich an. „Ashley."
„Papa." Ich schließe meine Zimmertür und mustere ihn. Er steht fertig angezogen im Türrahmen der Küche und sieht sehr erschöpft aus.
„Wir sollten reden.", sagt er leise.
„Wo ist sie?"
Mein Vater seufzt. „Oben. Ich möchte erst mit dir reden."
Ich nicke und verschränke meine Arme vor der Brust. Das sollten wir wohl. „Okay."
„Lass uns einen Sparziergang machen." Er streckt die Hand aus. Ich nehme sie nicht an, gehe jedoch mit ihm zusammen in unseren Garten.

**

Es ist alles sehr schnell gegangen. Zu schnell. Es ist montags Morgen und ich sitze alleine in der letzten Reihe.
Keine Ahnung, aber die Wörter sind am Samstag einfach aus mir herausgeströmt und mein Vater ist ausgerastet, richtig sauer geworden. Daraufhin wollte er unbedingt zur Polizei, ich solle Anzeige wegen sexueller Belästigung erstatten.
Na ja, wie dem auch sei. Habe ich dann. Ich habe den Polizisten das Geschehen geschildert, habe mich zusammengerissen und nicht geweint. Das ist Cody nicht mehr wert. Keine einzige Träne.
Manuel und Aurelio sind natürlich mitgekommen, weil sie alles und jeden überzeugen wollten.
Die Polizei hat es erstmal so aufgenommen und gesagt, sie würden das beste versuchen, aber ich kenne Codys Vater. Die haben Geld, so wie wir nun mal Geld haben. Und wahrscheinlich werden sie alles versuchen, um diese Anzeige abzuwimmeln.

Ich schiele zu Cody herüber, der sich weggesetzt hat. Sein Gesicht sieht nicht schön aus mit der Narbe an der Nase, den blauen Flecken und den aufgeplatzten Lippen. Zu doof, dass Aurelio einen Ring getragen hat.
„Schlagen Sie bitte Ihr Buch auf. Seite hundertfünfzehn.", ruft Frau Altenstein und reißt mich aus meinen Gedanken. Verträumt ziehe ich mein Buch aus meiner Handtasche und suche nach der richtigen Seite.
„Ich habe mein Buch heute leider vergessen.", meldet sich eine männliche Stimme eine Reihe vor mir.
Meine Lehrerin schaut von ihrem Buch hoch. „Herr Perez, dann suchen Sie sich bitte jemanden, der seines mit Ihnen teilt." Sie zeigt auf uns Schüler.

Bennet erhebt sich und dreht sich um. Unsere Blicke treffen sich und er lächelt mich an.
„Bennet, du kannst zu mir kommen.", ruft Emily und hält ihr Buch in den Händen.
„Ich setze mich einfach zu ihr, ja? Geht schneller." Bennet packt schleunigst seine Sachen und lässt sich ein paar Sekunden später neben mir nieder. „Hey."
„Hi.", flüstere ich und schiebe mein Buch zu ihm herüber. Emily mustert uns komisch, aber belässt es dabei.

„Wie war dein Wochenende?", fragt er vorsichtig.
Meine Lehrerin erhebt sich. „Lesen Sie bitte den Text und bearbeiten anschließend folgende Aufgaben.", ruft sie und sucht nach Kreide.
„Wie soll es schon gewesen sein?", frage ich ironisch und lache auf. „Scheiße halt."
„Tut mir leid."
„Ist schon okay."
Bennet schaut auf das Buch. „Hast du...?"
„Ihn angezeigt? Hoffen wir mal, dass es was bringt."
Mein Partner schaut zu dem Arschloch. „Dein Bruder hat ihn gut zugerichtet."
„Das hat er. Wie war dein Wochenende?", frage ich schnell, um vom Thema abzulenken.
Der braunhaarige Junge schaut überrascht auf. „Es war... okay."

„Aufgabe eins, zwei, vier, sechs und sieben. Vierzig Minuten." Sie holt ihre komische Eieruhr raus und klatscht sie an die Tafel.
Bennet holt seinen Collegeblock hervor und sucht nach einer freien Seite.
„Du hast immer noch nicht auf meine Nachricht geantwortet. Wie wollen wir das machen?", flüstert er.
„Ach stimmt, scheiße, die habe ich ja komplett vergessen.", fluche ich.
„Habe ich mir gedacht."
„Du musst zum Arzt?"
„Ja."

Während ich überlege, hole ich ebenfalls meinen Block heraus. „Eigentlich habe ich gesagt, dass ich nur über meine Leiche zu dir komme, aber du hast mir da ziemlich aus der Patsche geholfen... bin ich dir wohl schuldig, oder?"
„Wenn du nicht zu mir möchtest... wir können auch zu dir oder in die Stadtbibliothek... Ich will mich jetzt echt nicht selber einladen."

Die Worte meines Vaters kommen mir in den Sinn. „Wir... du kannst ruhig mit zu mir kommen."
„Jetzt habe ich mich selber eingeladen. Das ist ja Scheiße."
Ich muss schmunzeln. „Nein, mein Vater hat gesagt, dass er mit dir sprechen wollte. Beziehungsweise sich bei dir bedanken will. Mich hätte wahrscheinlich irgendwer gefunden, aber... es ist halt mein Vater." Ich muss an Lorena denken, die meinen Vater am Samstag nach Hause gefahren hat und ich sie seitdem nicht mehr gesehen habe. Manuel meinte, dass sie ganz nett schiene, aber ich kann mich mit der ganzen Situation nicht anfreunden und weiß auch nicht, ob ich es irgendwann schaffe.
„Ach so.", lacht Bennet und lehnt sich vor, um besser ins Buch schauen zu können. „Wann passt es euch denn? Wir müssen ja nur noch wenig machen, dann muss ich auch nicht so lange bleiben."

„Stell dich darauf ein, dass du zum Essen bleiben musst. Er wird nicht lockerlassen."
„Woher weißt du das?"
„Er ist mein Vater, Bennet."
Und dann lesen wir für eine Weile erstmal den Text.
„Wann würde es dir denn passen?"
„Keine Ahnung... Morgen? Übermorgen?"
„Okay."
„Ich schreibe dir später mal."
„Danke."

Den restlichen Tag über bekommt Cody verwirrte Blicke von den Lehrern und unseren Mitschülern zugeworfen. Ich bekomme ebenfalls einige Blicke und Spitznamen ab, weil wohl das Video rumgeht. Aber das ist okay.

Alma und Courtney habe ich heute Morgen bewusst ignoriert, aber irgendwann haben sie mich erwischt und gefragt, was denn passiert sei.
Daraufhin habe ich ihnen das erzählt, was sie noch nicht wussten, denn anscheinend macht die ganze Aktion schon eine Runde in unserer Stufe.
Toll.

Ash- kalt wie EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt