Kapitel 21 - Geduldige Nähe

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Linelle Mahner

Auf einmal bemerkte ich im Augenwinkel ihre linke Hand, die sich zaghaft und langsam meinem rechten Arm nährte. Unweigerlich beschleunigte sich mein Herzschlag, als ich an ihre bevorstehende Berührung dachte. Ich atmete erschrocken ein, als ihre Hand kurz darauf sanft auf meinen Arm traf und hinauf zu meiner Schulter strich. Der Kontakte löste eine fast greifbare Spannung zwischen uns aus, die mich gnadenlos lähmte. Frau Bließmann entging meine ungewöhnlich starke Reaktion auf eine solch simple Berührung natürlich nicht und musterte mich daraufhin noch etwas genauer. Entgegen meiner Erwartung stoppte sie jedoch nicht, sondern hob ihre Hand weiter an. Dabei hielt sie ihren Blick immer aufmerksam auf mich gerichtet und achtete genau darauf, was ich zuließ. Obwohl sie sich unglaublich vorsichtig bewegte, wurde ich bei dem Gedanken, dass sie nun meinem Gesicht wahnsinnig nah kam, unweigerlich unruhig und wich automatisch ein kleines Stück zurück. Sie hielt inne und suchte meinen Blick, den ich wie von selbst abgewandt hatte. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen und sah sie erst nach einigen Sekunden wieder zögernd an. Warum tut sie das? Ich war verunsichert von ihrem Handeln und konnte meine eigenen Reaktionen nicht einschätzen. Sie ließ meine zwanghaft aufrecht erhaltene Distanz zwischen uns immer weiter bröckeln und allmählich konnte ich sie nicht mehr einfordern. Obwohl sie mich mit ihrer Direktheit einschüchterte, zog sie mich ebenso an. Diese Tatsache verunsicherte mich noch mehr. Ihre Nähe machte mir Angst und gleichzeitig wollte ich sie in diesem Moment zu sehr, als dass mich meine Angst von ihr hätte fern halten können. Ich versuchte, ihr meine Gedanken durch meinen Blick mitzuteilen und ihr zu verstehen zu geben, wie nervös sie mich machte. Wie nervös mich die gesamte Situation machte. Sie empfing meinen Blick. Ihrer wirkte mild, verständnisvoll. Sie schien mich zu verstehen. Fast als Antwort zeigten ihre Augen einen warmen, beruhigenden Ausdruck, der nach kurzer Zeit meine Aufmerksamkeit bündelte. Sie strahlte eine enorme Ausgeglichenheit und Beherrschung aus, woraufhin meine Bedenken binnen Sekunden in den Hintergrund rückten. Sie fesselte meine Konzentration auf sich, auf ihrem Gesicht, sodass ich allmählich erneut in ihrem tiefen, unergründlichen Braun, das mich wiederholt zu hypnotisieren schien, versank. Es war alles, an das ich in diesem Moment dachte. So schön.
Frau Bließmann nutzte meine Ablenkung, um mit zwei ihrer Finger ganz langsam, vorsichtig und ehrfürchtig, fast wie ein Windhauch im Sommer, ihren Weg hinauf zu meinem Schlüsselbein zu finden. Ich zuckte kurz unter ihrer Berührung, zu plötzlich traf ihre Haut auf meine, zu aufregend war die Empfindung, aber ich ließ sie gewähren. Sie strich kaum merklich hin und her, dann zog sie ihre Finger sachte weiter über meinen Hals, von welchem sofort eine kribblige Gänsehaut auf meinen gesamten Körper entsannt wurde, bis schließlich hoch zu meiner Wange, die sie sanft berührte. Behutsam und zart streichelte sie über meine weiche Haut, während ich versuchte, zu realisieren, was hier gerade passierte. Meine Lehrerin streichelt meine Wange. Aus meiner Hypnose ihrer Augen in der Realität angekommen, kostete es mich einiges an Selbstbeherrschung, keine Panik zu bekommen. Obwohl sie schlicht meine Wange anfasste, konnte ich nicht glauben, dass ich sie das tun ließ. Das ließ ich niemanden. Was, wenn sie...?
Sie wird dir nichts tun. Es ist in Ordnung, versuchte ich mich zu beruhigen. Aber sie berührt dich. Niemand darf dich berühren. Das ist nicht gut. Es ist gefährlich, erinnerte mich meine innere Stimme.
Verdammt!
Sofort fühlte sich meine Wange an, als würde sie glühen. Meine Atmung beschleunigte sich unnormal und ich zuckte aus automatischem Selbstschutz erneut zurück. Auch wenn ich mir rational sicher war, dass sie mich nicht verletzen wollte, ertrug ich ihre direkte Berührung nicht. Ich hielt sie an der Hand und am Arm schon nicht aus, wie sollte das dann im Gesicht möglich sein?
Frau Bließmann schien weiterhin genau auf meine Reaktion zu achten, denn sie ließ ihre Hand sinken und fixierte mich förmlich mit ihren Augen, um auch bloß jede meiner Bewegungen wahrzunehmen. Sie taxierte mich noch intensiver als zuvor, diesmal jedoch ernster, weniger verträumt. Sie ließ sich keine Sekunde entgehen, schaute, als würde sie befürchten, dass ich wieder vor ihr davonlief. Ich konnte fast sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Sie versuchte, mich zu verstehen und was mein Verhalten bedeutete. Sie wollte testen, was sie tun konnte, wie weit sie gehen konnte, mich aber nicht verschrecken. Sie war hin - und hergerissen. Ich sah es an ihrem prüfenden Blick, der Interesse und Verwirrung gleichermaßen zeigte. Sekunden vergingen und ich grübelte, worüber sie so angestrengt nachdachte. Eigentlich hätte sie gar nicht lange überlegen müssen, denn die Antworten auf ihre Fragen lagen ziemlich auf der Hand: weiter als bisher sonst irgendjemand. Sie konnte bereits jetzt weiter gehen, als sonst irgendjemand. Es stand ihr indirekt auf die Stirn geschrieben, dass sie genau das wissen wollte, doch ich würde ihr nicht erzählen, warum es so war und was dahinter steckte. Vielleicht irgendwann, vielleicht nie...
Niemand hatte mich bis zu diesem Tag im Gesicht anfassen dürfen. Ich hatte einfach zu viel Angst davor. Es war zwar viel zu oft dennoch geschehen, dann aber aus Zwang und Machtdemonstration. Nie, weil ich es selbst zugelassen oder gewollt hätte. Eine Person, von der ich das gewollte hätte, gab es bisher nicht. Nahezu jede Berührung, die ich in der Vergangenheit erfahren hatte, war gewaltsamer Natur entsprungen, sodass ich es absolut vermied, jemanden auch nur in die Nähe meines Gesichts zu lassen, geschweige denn, es anfassen zu lassen. Bis jetzt. Nun stand ich hier im Materialraum meiner Schule, mit meiner ahnungslosen Kunstreferendarin und hatte sie aus mir unerfindlichen Gründen meine Wange berühren lassen. Was war bitte in mich gefahren?

Das Wunder ihrer AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt