Kapitel 11 - Ungeschehen

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Jalia Bließmann

Wie gelähmt starrte Linelle nun schon seit Minuten auf ihre Arbeit, sichtlich in ihren Gedanken gefangen. Ihr Gesicht sprach Bände. Das erkannte ich, obwohl ich auf der anderen Seite des Raumes saß. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen taxierend nach unten gerichtet, ihre Lippen angestrengt aufeinander gepresst.
Abermals war sie kurz zuvor meinem freundlich intendierten Blick ausgewichen und hatte ihn lediglich kalt und distanziert gestreift, bevor sie mich nicht mehr beachtete.
Ich verstand dieses Mädchen einfach nicht.
Was hatte ich ihr denn getan? Warum strafte sie mich ständig mit Ignoranz, obwohl ich sie lediglich ermutigend anlächeln wollte?
Ich war lange nicht so gravierend missverstanden worden. Eigentlich dachte ich, sie verstand meine Blicke. Manchmal forderte sie sie doch selbst heraus, teilte mir damit ebenso unfreiwillig mit, was in ihr vorging, wie ich ihr. Oder doch nicht? Fiel ihr das nicht auf? Hatte ich mir das nur eingebildet? Empfand sich mich womöglich als unheimlich und wich mir deshalb ständig aus?
Ohje...
Was genau Linelle von mir dachte, wollte ich gar nicht wirklich wissen, aber nachdem sie mich wiederholt abgewiesen hatte, war ich mir relativ sicher, dass sie mich nicht unbedingt leiden konnte. Sie war rückblickend wohl nur freundlich, weil ich ihre Lehrerin war und sie sich dazu genötigt fühlte. Irgendwie schade.
Anfangs war mein Eindruck noch anders gewesen, da hatte ich wirklich das Gefühl, wir seien uns sympathisch. Sie erwiderte mein Lächeln und redete scheinbar gern mit mir. Und mich interessierte, was sie zu sagen hatte. Sie faszinierte mich irgendwie. Alles, was sie sagte, war auf eine bestimmte Weise tiefgründig, sodass ich ihr noch ewig hätte zuhören können. Genauso schrieb sie auch in ihrer Klausur. Ich hatte sie dreimal gelesen, weil ich ihre Formulierungen und ihren Stil allgemein sofort bewunderte. Ingesamt schlich sie sich immer wieder ungefragt in meinen Alltag, in meine Gedanken. Es ging so weit, dass mich selbst der Himmel an ihre Augen erinnerte.
Diese verdammten Augen.
Und nun starrten diese Augen auf ihre zarte Tuschzeichnung und ließen keinerlei Schluss darauf zu, was in Linelle vorging. Ich wusste, ihre Reaktion konnte eigentlich nicht an der Punktzahl liegen, die Florian ihr eben genannt hatte. Er schlug als Gesamtnote 12 Punkte vor, doch ich plädierte für 13. Meiner Ansicht nach hatte sie die redlich verdient. Allein schon für ihre Hingabe und Ernsthaftigkeit, während sie arbeitete. Florian hatte sich darauf eingelassen und ich war mir sicher, diese Punktzahl würde Linelle freuen. Wenigstens ein klitzekleines bisschen.
Tjaaa...Falsch gedacht, mal wieder.
Sie saß mir gut 15 Meter entfernt gegenüber und sah aus, als hätte man ihr gerade mitgeteilt, dass sie das Schuljahr nicht schaffen würde.
Warum denn nur?
Langsam nervte es mich wirklich, dass ich es nicht lassen konnte, mir über ihre Hintergründe Gedanken zu machen. Es konnte mir doch, weiß Gott, wirklich egal sein. Sie ignorierte mich, bedachte mich lediglich mit kurzen, kalten Blicken, nachdem sie mich kurz zuvor noch gradezu voller scheinbarer Zuneigung angelächelt hatte und mir damit beinahe meine neutrale Miene ruinierte. Sie war nur irgendeine Schülerin von hunderten, die ich in meinem Leben noch unterrichten würde. Was interessierte sie mich überhaupt? Sie machte mir doch immer wieder klar, dass sie mich auf Abstand wissen wollte.
...Was auch vernünftig war.
Und was ist mit ihrem Lächeln? Mit ihren Blicken? Das muss sie doch merken... Spürt sie das nicht?
Nun zur Gänze genervt erhob ich mich und verließ mit einem beinahe unfreundlich klingenden „Bin gleich wieder da!" an den Kurs gerichtet den Raum.
Ich wollte raus. Raus aus diesem Raum, in dem mir dieses Mädchen gegenübersaß und scheinbar darauf wartete, dass ihre Zeichnung durch ihren Blick zum Leben erwachte.
Warum starrte sie sonst so darauf?

Ich konnte kaum glauben, dass mich allein der Anblick einer Schülerin so aus meinem inneren Gleichgewicht bringen konnte.
Oder war es doch ihr Verhalten mir gegenüber?
Im Endeffekt war es mir auch egal. Sie war mir egal.
Ich war ihre Lehrerin und die würde sie nicht mehr einfach so stehen lassen und ignorieren, um im nächsten Moment doch wieder einen auf sympathisches Engelchen zu machen.
Nur weil sie so aussah, war sie es noch lange nicht.
Angekratzt, weil sie es so weit in meine Gedanken geschafft hatte, stapfte ich offensichtlich genervt zum Lehrerzimmer, um mir einen Kaffee zu holen. Der schmeckte zwar, als sei er an der Maschine vorbeigelaufen, aber das war mir gerade herzlich egal. Ich brauchte irgendeinen Grund, warum ich den Raum verlassen hatte und Kaffee war da doch eine gelegne Ausrede - und natürlich ein nur zu erwünschter Koffeinlieferant.

Das Wunder ihrer AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt