Kapitel 10 - Schwarz getränkt

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Linelle Mahner

„Okay, Dankeschön!", verabschiedete ich mich von Herrn Walter und öffnete die Tür des Werkraums.
Die Notenbesprechung war besser verlaufen, als ich erwartet hatte, weil auch die Klausur besser ausgefallen war, als ich es gewohnt war.
13 Punkte... Endlich mal wieder.
Ich war eine eher durchschnittliche Schülerin mit ihren Stärken und Schwächen, sodass ich es jedesmal schätzte, wenn ich eine Punktzahl im 1er-Bereich bekam.
Herr Walter hatte mir tatsächlich auch als Zwischennote 13 Punkte genannt, weil ich mündlich wohl ebenfalls wirklich gut mitarbeitete, wie er mir sagte.
Da er sich ja seiner Aussage nach mit Frau Bließmann kurzgeschlossen hatte, was unsere Gesamtnote betraf, wunderte mich das nun doch etwas.
Immerhin hatte ich mich ihr gegenüber in den vergangenen Wochen nicht unbedingt vorbildlich verhalten...
Die meisten Lehrer hätten das nicht nur persönlich genommen, sondern auch in der Note wirken lassen.
Aber nicht Frau Bließmann.
Dafür war sie zu großherzig, zu verständnisvoll.
Das erklärte auch ihr Lächeln, bevor ich im Werkraum verschwunden war. Oder als ich meine Klausur zurückbekommen hatte. Trotz meiner aktiven Distanz fühlte sie mit mir und war alles andere als nachtragend.
Als ich eben auf meine Klausur wartete und unsicher zu ihr blickte, riss mich ihr freundliches, aufrichtiges Lächeln einfach mit. Sie munterte mich auf, selbst wenn ich einen erdrückenden Sturm erwartete.
Wie macht sie das?
Herr Walter erwähnte mit keinem Wort etwas zu meinem merkwürdigen Verhalten, sodass ich glaubte, sie hatte ihm nicht einmal davon erzählt.
Ich verstand sie nicht. Wie konnte man als Lehrperson so selbstlos im Beruf sein?
Diese Erkenntnis ließ die Zuneigung, die ich für sie empfand und versuchte zu verdrängen, wieder aufkeimen.
Warum tut sie das?

Bevor ich nun durch die Tür trat, setzte ich eine neutrale, undurchschaubare Miene auf, vornehmlich um Frau Bließmann etwas zu irritieren und zu veralbern.
Egal, wie hoch ich ihr anrechnete, dass sie mich nicht anschwärzte und mich mein unfaires Verhalten ausbaden ließ, ich konnte - ich durfte - nicht wieder einen Schritt auf sie zu machen. So gern ich auch wollte. So groß meine Sympathie für sie auch war...
Nein.
Unser Lächeln vor einigen Minuten war schon wieder zu viel gewesen...
Einen komplizierten Menschen wie mich brauchte sie nicht in ihrem Leben. Wenn sie das nicht selbst erkannte, traf ich eben diese Entscheidung.
Ganz zu schweigen davon, dass sie im Grunde meine Lehrerin war, die keine Ahnung hatte, was sie in mir für ein Chaos auslöste. Es war für mich allein schon verwirrend genug, da würde ich sie nicht noch mit reinziehen, wenn ich es verhindern konnte.
Das würde nicht gut ausgehen...
Das spürte ich.
Aber sie? Spürte sie das auch?

Sie konnte die Situation nicht einschätzen, weil ich sie nichts wissen ließ, weshalb ich entschied, sie trotz der gerade erhaltenen positiven Nachricht möglichst wenig zu beachten. Sie wusste sicherlich, wie mich Herr Walter bewertet hatte, also würde sie meine Reaktion bestimmt wundern. Ihre wäre demnach vielleicht ganz lustig.
Wenn ich mich schon unfreiwillig komplett von ihr distanzierte, konnte ich mich auch etwas amüsieren.
Ich war mir sicher, die letzten paar Wochen mit ihr würde ich auch noch überstehen, warum also Trübsal blasen?

Sie kannte mich kaum, ich kannte sie kaum - und das würde sich auch nicht ändern. Bald verschwand sie wieder aus meinem Leben und somit auch diese kleine Gefühlsverirrung, die mich beinahe ins Wanken gebracht hatte. Langsam fand ich meine Balance wieder. Auch sie wirkte irgendwie konzentrierter. Ein erneutes Zeichen, dass es besser war, Abstand von ihr zu halten. Für uns beide.
Die kleinste körperliche oder emotionale Annäherung würde mich durcheinanderbringen, geschweige denn, wenn ich ihr vertrauen und mich öffnen würde.
Nein, sowas ist nichts für mich.
Das würde mich verletzlich und berechenbar machen. Und das wollte ich nicht sein.
Ich war nicht emotionslos, aber abgeklärt. Oberflächlich ging ich gerne auf Menschen zu, aber es endete immer schnell am selben verschlossenen Punkt.
Im Lauf der Jahre hatte ich zum Schutz eine hohe Mauer um mein Herz und meine Seele errichtet, die niemand so schnell überwinden würde. Menschen, denen ich einst vertraute, ließen mich allesamt früher oder später doch wieder fallen. Angefangen von meinen Eltern. Inzwischen hatte ich mich gewissermassen daran gewöhnt und es war okay für mich. Ich hatte daraus gelernt. Aber ich musste mir ja keine neue Person in mein Leben holen, die mich verletzen konnte. Ganz egal, wer das war.
Ich konnte und vor allem wollte mich niemandem öffnen. Ich kam gut allein klar.
In der Schule hatte ich meine Freunde, mit denen ich über Gott und die Welt sprach, mit denen ich Dinge unternehmen konnte und die mich immer gerade so weit in sozialen Kontakten hielten, dass ich halbwegs mit dem Alleinsein klarkam. Ob das schön war? Darum ging es mir nicht. Es war einfach besser so. Für mich und für andere. Ich war keine Person, die man gern um sich hatte. Ich wollte nichts erzählen, denn ich wollte nicht, dass Leute wussten, wer ich bin. Ich hörte lieber zu.
Ich wollte sein, was ich zeigte, nicht, wofür man mich hielt. Alles, was ich nicht zeigte, ging auch niemanden etwas an. Mich so zweidimensional zu verhalten, war vor Jahren eine bewusste Entscheidung gewesen und seitdem trat ich als wandelnde Hülle auf. Ich wollte kein gläserner Mensch für jedermann sein. Deshalb war ich auch kein besonders gesprächiger Mensch, wenn es um mich selbst ging. Über andere Themen sprach ich gern, war offen für Diskussionen der Probleme in der Welt. Politik, Geschichte, Kunst, Poesie...
Man durfte mir nur nicht zu nahe kommen. Aber das tat man schnell, denn meine Grenzen waren aus Erfahrung recht weit gesteckt. Normalerweise reagierte ich empfindlich, sobald sich eine Person diesen Grenzen auch nur nährte - doch jetzt kam das große Aber...
...Ausgerechnet meine Kunstreferendarin Frau Bließmann unterwanderte diese Normalität ab dem ersten Moment, in dem ich ihr begegnet war. Zwischen uns war zwar nichts weiter geschehen, als ein paar intensive Blicke und angeregte Unterhaltungen, aber genau diese ließen meine Wahrnehmung bereits verrückt spielen.
Sobald ich sie bemerkt hatte, galt meine Aufmerksamkeit ihr. Ich erinnerte mich gut daran, wie fasziniert ich allein von ihrer Erscheinung war. Von ihrer Energie, ihrem Optimismus, ihrer Herzlichkeit ganz zu schweigen.
Ich wusste sofort, dass sie irgendetwas Besonderes an sich hatte, konnte jedoch wochenlang nicht benennen, was es war. Ich spürte nur, wie sie mich stets anzog, mich festhielt, ohne mich zu berühren. Es war ihre Nähe, die den Rest der Welt für mich farblos und schemenhaft, geradezu irrelevant, erscheinen ließ und mich dennoch alles auf magische Art und Weise so viel klarer sehen ließ. Ihre Sympathie, meine Zuneigung für sie und das reizvolle Unbekannte an ihr beeindruckten und faszinierten mich, brachten mich dazu, meine sichere Distanz zu vernachlässigen, die ich sonst konsequent zu jedem Menschen hielt.
Ihre Aura hatte mich eingehüllt, hatte innerhalb von Sekunden meine Grenzen überschritten...
Was es auch war, sie war die einzige Person, die eine solche Wirkung auf mich hatte. Durch meine Zuneigung zu ihr wurde ich unvorsichtig. Wie sehr, bemerkte ich, als wir uns über meine Tuschzeichnung und ihre Bedeutung unterhielten. Ich erzählte ihr, was ich dachte, was in meinem Kopf diesbezüglich vorging, was die Motive für mich bedeuteten. Das hätte ich sonst nie getan. Irgendetwas machte sie mit mir. Etwas, das ich ganz und gar nicht gut hieß. Doch solange sie in meiner Nähe war, war es mir egal.
Erst im Nachhinein realisierte ich...
Als mir klar geworden war, wie sympathisch ich sie fand, wie leicht ich mich mit ihr unterhalten konnte und dass diese Tatsachen eventuell damit einher gehen könnten, ihr gegenüber meine Grenzen automatisch und unbewusst zu verkleinern, musste ich einfach abblocken. Glücklicherweise bemerkte ich ihre Wirkung schnell, nämlich in dem Moment, in dem sie vor drei Wochen meine Klausur angesprochen hatte.
Ich durfte kein Gefallen daran finden, ihr Dinge von mir zu erzählen und ihr Interesse zu wecken.
Das hatte ich jedoch schon in überdurchschnittlichem Maße getan.
Und das musste aufhören.
Egal, wie verwirrend es ihren Reaktionen nach für sie war, ich musste auf konsequente Distanz gehen, um zu verhindern, sie wirklich zu mögen.
Es durfte nicht sein.
Diese Distanz schaffte sie nach zwei missglückten Gesprächsversuchen ihrerseits schon von ganz allein, sodass es mir deutlich leichter fiel, ihr aus dem Weg zu gehen.
Ich musste sie vor den Kopf stoßen, um sie von mir fern zu halten.
Ich wusste, dass mein Verhalten für sie keinen Sinn ergab; hatten wir uns Tage zuvor noch gut verstanden, angeregt unterhalten und gelacht, flüchtete ich nun scheinbar grundlos vor ihr.
Mittlerweile redeten wir kaum noch miteinander und ich merkte, wie ich mich langsam wieder etwas sicherer in meinem Kokon verkriechen konnte. Ohne ihre bohrenden Blicke, von denen ich jedesmal befürchten musste, durchschaut zu werden. Ich konnte nie sagen, was sie in mir sah, aber ich war sicher, dass es mehr war, als mir lieb war.
Obwohl ich ihre Blicke und Nähe mied, bemerkte ich, wenn sich unsere Augen doch ab und zu trafen und einen Moment zu lange beieinander verweilten, was im Unterricht unvermeidlich war, leider noch immer einen Funken Interesse daran, den Sinn hinter meinem Verhalten zu ergründen.
Wenn ich sie jedoch weiterhin etwas verwirrte, wie jetzt mit meiner Reaktion auf meine 13 Punkte in Kunst, wäre ihr all das vielleicht zu blöd und dieser Funke würde erlöschen. Das musste er.
Auch wenn ich es eigentlich gar nicht wollte...

Endlich betrat ich meinen Kunstraum wieder. Meine Gedankengänge hatten lediglich ein paar Sekunden gedauert und so rang ich mir nun ein neutrales Pokerface ab, während ich zu meinem Platz ging.
Im Augenwinkel bemerkte ich, wie erwartet, Frau Bließmann, die mich nun visuell förmlich zu verfolgen schien, bis ich ihr eine Regung zeigte.
Konnte sie haben.
Als ich mich hinsetzte, blickte ich ihr bewusst kalt und emotionslos entgegen. Ich zwang mich, schnell wieder wegzuschauen, um keinerlei Hinweis auf Freude meinerseits zu geben oder ihr den Eindruck zu vermitteln, ihre Reaktion würde mich interessieren. Sie musste mir einfach abkaufen, dass ich nicht auf sie achtete, dass sie mir nichtmal einen weiteren Blick wert war.
In der Sekunde, in der ich mich abwendete, sah ich noch, wie sie zaghaft lächelte, bevor sie die Stirn runzelte und beinahe enttäuscht ihren Kopf senkte.
Es tut mir leid, dachte ich.

Shit. Ihre Reaktion war ja mal so überhaupt nicht amüsant gewesen. Eher im Gegenteil. Es war unangenehm, sie gewissermaßen zurückzuweisen, selbst wenn es nur auf eine solch schlichte Weise geschah.
Was immer zwischen uns passierte, bedeutete irgendwie mehr, als die eigentlichen Handlungen. Unterhaltungen waren mehr als bloßer Informationsaustausch. Nähe war mehr als bloßes Voreinanderstehen, aber schloss Körperlichkeit aus. Blicke waren mehr als bloßes Wahrnehmen.
Wenn wir redeten, lachten wir und hatten Freude, weil uns beide interessierte, über was wir sprachen. Wenn wir aufgrund der praktischen Arbeit physisch nah beieinander waren, spürte ich ihre Anziehung mit jedem Zentimeter, den sie näher kam, und ich war sicher, ihr war diese Spannung auch nicht entgangen. Ich hatte das Gefühl, sie berührte mich, ohne mich tatsächlich anzufassen...
Wenn sich unsere Blicke trafen, war es, als werde diese Spannung sichtbar, als konnten wir die Gedanken des anderen sehen. Und das, obwohl wir uns kaum kannten. Es war verrückt.
Ich verstand es nicht. Aber das musste ich auch nicht, weil es ohnehin keine Rolle spielte. Sie war meine Kunstreferendarin, die bald wieder aus meinem Leben verschwand.
Nicht mehr, und nicht weniger.
Trotzdem hatte sie, als ich von der Notenbesprechung wiederkam, zu mir gesehen und damit gerechnet, dass ich sie anlächeln würde. Sie  hatte sich mit mir gefreut und es mal wieder nur gut gemeint. Und ich? Ich reagierte schon wieder konträr zu dem, was sie erwartet hatte, brachte sie schon wieder in eine unangenehme Lage.
So ein Mist.
Nun etwas beschämt starrte ich auf mein Blatt vor mir. Mir war auf einmal übel und ich spürte, wie sich Flüssigkeit in meinen Tränensäcken sammelte.
Ich musste das tun.
Es ist richtig. Es ist vernünftig.
Ich atmete tief durch und griff nach meiner Tuschfeder. Ablenkung.
Langsam ließ ich die dunkle Tusche wahllos über das Papier laufen und beobachtete sie krampfhaft, wie sie es stellenweise tränkte.
So, wie es gern meine viel zu lang ungeweinten Tränen täten. Schwarz-graue Tuschetränen bahnten sich zaghaft ihren Weg über die fasernde Oberfläche, die mehr als deutlich meinen momentanen Gefühlszustand zeigten.
Frau Bließmann wollte echte Gefühle sehen?
Hier hatte sie sie.
Egal, was ich tat, egal, was ich versuchte, egal, wie  kalt ich sie anschauen und wie sehr ich sie wegstoßen wollte - ich wusste, sie bedeutete mir bereits jetzt mehr, als sie sollte.

Das Wunder ihrer AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt