Kapitel 9 - Rätselhafte Emotionen

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Jalia Bließmann

Was war das denn, bitte?
Etwas ungläubig stand ich im Foyer des ersten Stocks und schaute immer noch in die Richtung, in die Linelle eben einfach so verwunden war und mich hier hatte stehen lassen. Schon wieder.
„Ich weiß. Danke, Frau Bließmann.", war alles gewesen, womit sie mich abgespeist hatte. Eigentlich hätte ich verärgert sein müssen, dass sie einfach so über meine Aussagen hinwegging, aber immerhin hatte ich dadurch die Bestätigung, dass irgendetwas nicht stimmte. Einige Sekunden überlegte ich, ob ich ihr hinterherlaufen sollte, entschied mich dann aber, zu meinem Unterricht zu gehen. Es war schlicht nicht meine Aufgabe. Ich war nicht ihr Kindermädchen. Sie wollte nicht mit mir reden, das musste ich akzeptieren. Und wie ich eben selbst zu ihr gesagt hatte: Wir kannten uns kaum, wenn nicht sogar gar nicht. Warum sollte sie also mit mir sprechen? Ich hatte nichts zu erwarten. Mein Gewissen, sie gestern verunsichert zu haben, hatte ich bereinigt, indem ich sie auf die Geschehnisse nach der Klausur angesprochen hatte, also brauchte sie mich nicht weiter zu interessieren.
Eigentlich.

                                             ***

Die folgenden drei Wochen vergingen schleppend und waren stressig. Ich war viel beschäftigt mit meinen jüngeren Klassen, um sie irgendwie an den Punkt zu kriegen, in einer von ihnen demnächst meine Lehrprobe in Biologie machen zu können. Wir hatten noch einiges an Stoff, den sie bis dahin drauf haben sollten. Die Q1 werkelte in großem Maße selbstständig an ihrer Projektarbeit. Ich unterhielt mich immer wieder mit einzelnen Schülern über ihren Prozessstatus. Linelle war ich konsequent aus dem Weg gegangen und beschränkte unseren Kontakt auf einfaches Grüßen, wenn wir uns auf dem Gang begegneten oder antwortete ihr, wenn sie mich gezwungenermaßen im Unterricht ansprach. Ich hatte das Gefühl, ihr kam es ganz gelegen, dass ich Abstand von ihr hielt, denn sie tat das ebenfalls.
Die lockere Stimmung zwischen uns war innerhalb der letzten Wochen merklich abgekühlt und wir beachteten uns kaum. Mir war das nur recht, denn dieses Mädchen hatte mich zuvor doch irgendwie etwas mehr interessiert, als es wohl hätte sollen. In welche Richtung das ging, konnte ich nicht sagen, aber es reichte, um mir immer wieder ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Auch wenn mich unsere anfänglichen Gespräche amüsiert und auf gewisse Weise auch erstaunt hatten, war ich froh, dass ich mich nun voll und ganz auf den Unterricht konzentrierte. Ebenso wie sie. Sie kam gut mit ihrer praktischen Arbeit voran, denn allmählich nahm das Ganze wirklich Form an. Ihre Tuschzeichnung wirkte so grazil, so zerbrechlich. Und so vorsichtig, wie Linelle über das Papier strich, fühlte sie sich voll und ganz in ihr Werk hinein. Sie bekannte durch die Tusche tatsächlich ihre Gefühle. Ohne zu sprechen. Sie fühlte, sonst nichts. Das sah man. Unweigerlich fasziniert beobachtete ich sie noch immer hin und wieder. Sie ließ mich weiterhin im Unklaren, warum sie nach der Klausur, die ich beaufsichtigt hatte, weggelaufen war und tat bevorzugt, als hätte es auch das Gespräch am nächsten Tag nicht gegeben.
Dennoch redete sie nach wie vor lieber mit mir über ihre Arbeit als mit Florian. Sie schien sich aufgrund der schulischen Themen allmählich wieder etwas zu entspannen und nicht mehr ganz so angespannt mit mir zu sprechen. Im Gegensatz zu ihm. Aus irgendeinem Grund umging sie ihn schon das gesamte Halbjahr, wenn es möglich war. Ich bemühte mich, ihr Verhalten nicht erneut infrage zu stellen. Es geht mich nichts an. Solange sie zumindest arbeitete, was sie tat, war das für uns beide in Ordnung, auch wenn es ungewöhnlich war.
Ich hoffte, ihr war klar, dass ich in ein paar Wochen ihren Kunstkurs wieder verließ und sie sich spätestens dann mit ihm abfinden musste.

Es war 9:36 Uhr, gleich machten Florian und ich uns auf dem Weg zum Raum. Heute würde der Kurs die Klausur zurückbekommen und Zwischennoten besprechen. Das kann ja was werden. Ich tippte gerade auf meinem Handy herum und aß den Rest meiner täglichen Birne, als es zum Pausenende läutete.
„Jalia, kommst du?", rief mich prompt Florian, der schon an der Tür stand. Etwas überrascht schnappte ich meine Tasche und lief zu ihm. Sonst durfte ich immer auf ihn warten.
„Bin schon da. Warum so schnell unterwegs heute?"
„Die Sache mit den Noten dauert immer ewig und das wird nicht besser, wenn die Schüler älter sind und diskutieren wollen. Also gehen wir.", verstehend nickte ich.
Im Keller angekommen, hielt mir Florian mit einem breiten Grinsen die Tür auf und winkte mit seiner freien Hand, ich solle vorgehen. Ich bedankte mich ebenfalls lächelnd. Natürlich blieb das von der Q1 nicht unbemerkt, sodass ich kurz darauf einige zweideutige Blicke erntete. Denkt ihr doch, was ihr wollt. Ich will definitiv nichts von ihm. Amüsiert ging ich an den Schülern vorbei. Florian war knapp zwanzig Jahre älter als ich und ich konnte nicht behaupten, mein Beuteschema nach dem Vaterkomplex ausgerichtet zu wissen. Obwohl Florian wirklich freundlich mit mir umging und viel dafür tat, dass ich gut durch mein Referendariat kam. Er wusste um die Vergangenheit an meiner vorigen Schule und wollte lediglich verhindern, dass ich die Freude am Unterrichten verlor und meine Werte fallen ließ. Ich schloss die Tür vom Kunstraum auf und blieb zur Abwechslung bei ihr stehen, um sie nun den Schülern aufzuhalten. Direkt den Wind aus den Segeln nehmen. Wir sind bloß freundlich. Dennoch liefen ein paar belustigt an mir vorbei, man konnte sie förmlich denken sehen. Ich schaute gerade Bandura und Pauline nach, die mich ebenso vielsagend gemustert hatten, als ich Linelles Blick auf mir spürte und sie durch die Tür trat. Unsere Augen trafen aufeinander und mein Lächeln verblasste etwas, als ich ihren traurigen, bemüht kaschierenden Ausdruck wahrnahm. Sie hielt tapfer meinen Blickkontakt und kam langsam immer näher. Kurzzeitig hatte ich das Gefühl, sie würde durch mich hindurch gucken, so intensiv strahlten mich ihre kaltblauen Augen emotionslos an, und war froh, als sie an mir vorbei war. Was ist denn jetzt los? Innerhalb von wenigen Sekunden hatte sie mich nur mit ihrem Blick verunsichert. Was ist ihr Problem? Wieder einmal verwirrt ließ ich auch die restlichen Schüler durch die Tür, bevor ich sie endlich schloss und mich neben Florian, der am Pult lehnte, auf einem Stuhl niederließ. Während er den Ablauf der heutigen Stunde durchsprach, verschaffte ich mir einen Überblick über die Stimmung im Kurs, wich dabei aber Linelle aus. So einen Blick würde ich mir nicht noch einmal abholen.
Natürlich war die Freunde denkbar groß, als verkündet wurde, dass es sie Klausur zurückgab und stieg noch ins Unermessliche, als das Besprechen der Zwischennoten zur Sprache kam. Wie von selbst wanderte mein Fokus nun doch zu Linelle. Als ich das bemerkte, wollte ich am liebsten genervt aufstöhnen, riss mich aber zusammen. Pokerface, Jalia. Trotzdem wollte ich aus irgendeinem Grund wissen, wie sie reagierte. Ihre Augen waren gerade nach vorne zu Florian gerichtet, taxierten ihn förmlich. Wenn Blicke töten könnten.
Nachdenklich legte ich die Stirn in Falten. Was hat sie denn nur? Warum ist sie nur so wahnsinnig schlecht gelaunt? Wie ich es auch drehte und wendete, aus Linelles Verhalten konnte ich mir beim besten Willen keinen Reim machen. Sie musste mir ja nicht direkt ihre Lebensgeschichte anvertrauen, aber eine kleine Begründung für ihre Reaktion wäre durchaus hilfreich gewesen. Und wie sie jetzt auch noch Florian anschaute, der mit der ganzen Sache der Klausur ja eigentlich gar nichts zu tun hatte - ich verstand sie nicht. Die, die offensichtlich in ein Fettnäpfchen getreten war, war doch ich, aber trotzdem schien sie in diesen Sekunden Florian ä, nicht mich, beinahe mit Blicken erdolchen zu wollen.
Das macht doch alles keinen Sinn. Während Florian unbeirrt redete und nun ankündigte, dass die Arbeitsmaterialien aus dem Werkraum geholt werden dürften, wonach er die Klausuren austeilen wollte, dämmerte mir allmählich, dass es Linelle um mehr gehen musste als um diese eine Klausur. Um was, konnte ich mir nicht erklären, aber sie hatte irgendwie mein Interesse geweckt, sodass ich gewillt war, abzuwarten.
Schließlich endete Florians kleine Rede und der Kurs machte sich auf den Weg, seine Arbeiten zum Platz zu holen.
„So, wie besprochen gibt es jetzt die Klausuren. Der Schnitt liegt bei 8,6. Das ist soweit ganz in Ordnung, auch wenn ich denke, dass der ein oder andere noch besser hätte schreiben können. Vielleicht beim nächsten Mal.", damit begann er, die Klausuren auszuteilen und sprach mich währenddessen unverhofft an.
„Bei einigen Korrekturen hatte auch Frau Bließmann Einsicht, weil sie auf diese Weise hoffentlich noch ein paar Sachen für ihre eigenen Korrekturen mitnehmen konnte. Hinzu kommt, dass ihr Eindruck, den sie im Unterricht von euch hat, auf der anderen Seite auch in meine Bewertung der Gesamtnote eingeflossen ist und es mir daher nur logisch erschien, sie auch über eure schriftlichen Leistungen in Kenntnis zu setzen. Wie war denn dein Eindruck?" Etwas überrascht lächelnd stand ich von meinem Stuhl auf und lehnte mich neben Florian ans Pult. Zeit schinden.
„Im Großen und Ganzen kann man, denke ich, zufrieden mit dem Ausgang sein. Ich fand eure Klausuren ziemlich spannend, auch wenn ich nicht alle gesehen habe. Ein paar von euch haben einen wirklich guten Schreibstil, da hätte ich glatt noch weiterlesen können.", bei den letzten Worten guckte ich bewusst zu Linelle, die inzwischen nicht mehr ganz so ungnädig dreinschaute. Trotzdem war ihr die Anspannung anzusehen. Warum auch immer.
Sie hatte eine wirklich gute Klausur geschrieben. 13Punkte. Ja, das hatte ich mir gemerkt. Einerseits natürlich, weil sie am Ende jener Stunde derart eigenartig reagiert hatte, andererseits weil ich das ohnehin irgendwie wissen wollte. Nach einigen Sekunden trafen ihre Augen auf meine. Sie musste meinen Blick gespürt haben. Wie jedesmal fiel mir ihr unglaublich kräftiges Blau auf, das sie sonst immer so stark und schön aussehen ließ. Doch in diesem Moment schimmerte es fragend, unsicher. Florian legte ihre Klausur vor sie. Sie beachtete sie erst gar nicht, sondern schaute weiterhin mich an. Vorsichtig lächelte ich, in der Hoffnung, eine positive Wirkung zu erzielen. Und tatsächlich, ihre Miene hellte etwas auf. Nun wagte sie einen Blick auf ihre Klausur, der dort einen Moment verweilte. Dann guckte sie auf und fand erneut meinen meine Augen. Da ist es wieder. Das begeisterte Funkeln in ihrem Blick, das aussah, als würde die Sonne auf einem See glitzern. Mein Lächeln wurde automatisch breiter, als sie es erwiderte. Wie süß. Was? Nein. Nicht süß. Verdammt. Daraufhin drehte ich mein Gesicht weg und bemühte mich etwas umständlich um mein neutrales Pokerface, um mir nicht anmerken zu lassen, dass mich ihre Reaktion ein klein wenig freute. Zum ersten Mal seit ziemlich genau drei Wochen hatte sie mich angelächelt. Und zum ersten Mal seit drei Wochen schien sie zufrieden, war in Sekundenschnelle beinahe wie ausgewechselt.
„Da kann ich mich eigentlich nur anschließen und würde sagen, wo jetzt alle ihre Klausur wiederhaben, fange ich demnächst mit den Zwischennoten an. Damit ihr euch besser einschätzen könnt und so weiter. Ihr kennt das. Wir haben noch knapp fünf Wochen Unterricht vor den Weihnachtsfeiern. Bis dahin möchte ich eure praktischen Arbeiten haben. Danach die zwei Wochen bis zu den Zeugnissen werden wir wohl noch ein bisschen Theorie durchnehmen. Als kleiner Zeitplan für euch.", ergriff Florian wieder das Wort.
„Gut, dann fangen wir mit Marina an. Kommst du?"
Marina folgte ihm in den Werkraum und die Besprechung begann. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz am Pult und beobachtete die Schüler bei ihren Arbeiten. Etwas anderes konnte ich momentan nicht wirklich tun, alle waren beschäftigt.
Nach einiger Zeit holte ich dann doch meinen Terminkalender heraus, um die nächsten Wochen durchzugehen und ein bisschen zu planen.
Erst als Linelle aufgerufen wurde, hob ich meinen Kopf. Wie erwartet schaute sie in meine Richtung. Ich lächelte ihr zu und nickte leicht, dann verschwand sie im Nebenraum. Warum war sie so unsicher? Ihre Leistung ist bisher gut gewesen.
Vielleicht befürchtete sie, dass unser kleiner Zwischenfall sich auf ihre Note auswirkte. Das hatte sie bei mir jedoch nicht zu befürchten. Ich war ja schließlich in das Fettnäpfchen getreten, das ihren Stimmungswandel mir gegenüber ausgelöst hatte. Es wäre nicht fair gewesen, sie dann mit einer geringeren Punktzahl zu bestrafen, indem ich Florian davon erzählte. Außerdem hatte sie trotz ihres offensichtlich unausgeglichenen Gemüts an ihrer praktischen Arbeit gesessen, sodass ich das ohne diese Geschichte nicht hätte rechtfertigen können. Demnach verstand ich ihr Problem nicht. Hätte sie doch mir mir geredet. Dann wäre alles viel klarer. Aber ich bin fast eine Fremde. Warum hätte sie das auch tun sollen? Es machte schon Sinn, dass Linelle sich vor mir verschlossen hielt, aber sie machte nicht den Eindruck, als sei sie bei anderen maßgeblich offener, was mich doch etwas wunderte. Grundsätzlich schien sie ein fröhlicher Mensch zu sein, der sich wohl aber nie wirklich zu detaillierteren Aussagen hinreißen ließ. Wie sie sich privat und locker verhielt, würde ich wohl nie erfahren. Ich wusste, dass mich das nicht zu interessieren hatte, aber irgendwie tat es das trotzdem. Ihre Widersprüche reizten mich. Wenn ich ihr über den Weg lief oder hier im Unterricht auf sie traf, sah ich ihr manchmal an, wenn sie etwas beschäftigte, obwohl sie das sicherlich nicht beabsichtigte. Bis sie mich im nächsten Moment bemerkte, ihre Fassung zurückerlangte und keine undurchdachte Emotion mehr zeigte.
Sie war schon etwas rätselhaft.

Das Wunder ihrer AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt