Kapitel 30 - Empfindsamer Wehmut

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Jalia Bließmann

Sie hätten gerne hierbleiben können.

Selines Worte hallten ständig in meinem Kopf wider und vereinnahmten meine Gedanken.
Warum hat Linelle nichts weiter gesagt?
Warum war sie so ruhig?
Andererseits... Was hätte sie auch groß sagen sollen? Du hast nichts zu erwarten, mahnte meine innere Stimme. Ich weiß...
Dennoch kreiste meine Konzentration dauernd um diese Fragen. Und das, obwohl mich natürlich sehr interessierte, wieso Herr Dr. Tiefental mich kurz zuvor während meiner Examensstunde unterbrochen und vor dem gesamten Kurs der Q1 in Zugzwang gebracht hatte. Seit ich hier bei meinen Ausbildern saß, um mein Examen zu besprechen, konnte ich mich kaum darauf konzentrieren, was sie mir eigentlich erzählten. Dauernd dachte ich daran, wie betrübt vor allem Linelle bei unserer Verabschiedung ausgesehen hatte und wie still sie gewesen war. An sich kein absolut ungewöhnliches Phänomen bei ihr, allerdings schien sie diesmal nicht schlicht nichts zu sagen gehabt zu haben, sondern absichtlich zu schweigen. Zudem mied sie meinen Blick, solange sie konnte, und erwiderte ihn erst, als sie ihm durch meinen Fokus nicht mehr ausweichen konnte. Angestrengt wollte sie offensichtlich ihre Emotionen vor mir verborgen halten, obwohl es ihr eigentlich nicht ähnlich sah, naiv zu glauben, ich würde ihr ihre Enttäuschung nicht trotzdem ansehen. Denn das tat ich. Und es ließ mich nicht kalt, dass ich für diese Enttäuschung, die sich glitzernd in ihren Augen spiegelte, verantwortlich war. Sie machte mehr als deutlich, dass Linelle nicht wollte, dass ich ging. Es stand ihr praktisch auf die Stirn geschrieben. Nicht für jeden sichtbar, aber für mich umso mehr erkennbar. Dazu die vielen, winzigen, anziehenden Momente der vergangenen Monate, die uns jede für sich immer wieder innehalten ließen. Die stumme, deutliche Bitte in ihren klaren, blauen Augen, als sie dachte, sie hätte mich zum letzten Mal gesehen. All diese Gründe zwangen mich innerlich dazu, ihre kleine Hoffnung auf ein Wiedersehen zu erhalten. Unmöglich war es schließlich nicht, auch wenn ich aktuell selbst nicht daran glaubte.
Es liegt nicht in meiner Hand.
Sowieso war es besser für uns beide, das, was auch immer da zwischen uns vielleicht eventuell gewesen sein mochte, möglichst schnell zu vergessen. Bisher hatten wir dem Wirrwarr zwischen uns kaum Raum gegeben und es war über kurz oder lang eindeutig vernünftiger, das auch nicht zu ändern. Mehr als ein Hirngespinst ohne Wände und Boden konnte es ohnehin nicht sein. Ein kleiner Wunsch ohne Realität, ein kurzer Traum ohne Zukunft- sonst nichts. Gesetz dem Fall, dass meine Wahrnehmung mich nicht sowieso täuschte und das, was ich glaubte, ihr anzusehen, überhaupt real war, existierten viel zu viele Aspekte, die es unmöglich machen würden...

,,Frau Bließmann, hören Sie mir überhaupt zu?!''
Ertappt zuckte ich zusammen, als Dr. Tiefental unverhofft meine kreisenden Gedanken kreuzte. Mal wieder wollten diese sich irgendwie nur mit Linelle beschäftigen. Mist. Was hat er gesagt?
Irritiert warf ich Frau Arnold einen fragenden Blick zu. Solgleich sprang meine Ausbilderin für Kunstdidaktik helfend ein.
„Sollen wir vielleicht mal kurz eine Pause machen, bevor wir Ihnen eine Rückmeldung geben? Das geht hier ja jetzt doch alles sehr schnell.''
Dankbar lächelte ich erst sie und dann die anderen Anwesenden im Raum an und nickte.
,,Ja. Ja, ich denke, das wäre gut. Danke!''
Niemand schien etwas einwenden zu wollen, also erhob ich mich und lief zügig aus dem Raum Richtung Treppe. Vielleicht würde ein wenig frische Luft meine Gedanken aufklaren und mich meine Konzentration wiederfinden lassen. Draußen angekommen stellte ich mich an ein Geländer beim Eingangsbereich und spürte, wie mich Erleichterung durchströmte, einen Moment allein sein zu können.

Was war denn los mit mir? Es sah mir gar nicht ähnlich, in einer solch wichtigen Situation nicht jedem Satz genaustens beizuwohnen, der von meinen Prüfern über mich und meinen Unterricht fiel. Normalerweise würde ich mich jeder Aussage stellen, jede Kritik wie ein Schwamm in mich aufsaugen und mir Notizen machen. Ich würde mich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren und nicht auf irgendwelche beiläufigen Banalitäten. Aber genau das tat ich gerade. Aus irgendeinem Grund blieb ich dauernd an der vorhergehenden Verabschiedung von Linelle und ihrem wortkargen Verhalten hängen. Obwohl ich mich nicht einmal aktiv dazu entschied. Es passierte einfach. Sie war ständig in meinen Gedanken. Ich verstand gar nicht, warum mein Unterbewusstsein sie scheinbar als so wichtig empfand. Faktisch war sie das doch gar nicht. Sie war nur eine Schülerin von vielen, die ich im Laufe meiner Karriere noch unterrichten würde. Nicht mehr und nicht weniger. Richtig?
Sicher, ich verstand mich grundsätzlich gut mit ihr, mochte es - wieso auch immer - dass sie mich immer wieder vor Herausforderungen stellte und konnte darüber hinaus nicht leugnen, dass ich sie nach wie vor ziemlich hübsch fand, obwohl ich etliche Male versucht hatte, es mir auszureden. Trotzdem, oder gerade deshalb, war mir als Lehrerin natürlich rational betrachtet klar, dass es zum Beruf gehörte, dauernd mit wechselnden Kursen zu arbeiten und dass man einzelne Menschen darum nie zu sehr in sein Herz schließen sollte, egal, wie sympathisch oder hübsch sie vielleicht sein mochten. Bisher war diese Tatsache für mich nie zum Problem geworden, doch jetzt, wo ich erstmals damit konfrontiert wurde, jemanden zu mögen, den ich aus meinem Leben zu streichen hatte, dämmerte mir, dass auch ich nicht gegen den Wehmut, den Abschiede meist mit sich brachten, immun war.
Ich will nicht gehen...
An diesem Gymnasium fühlte ich mich endlich wieder wohl, akzeptiert und anerkannt.
Dass ich das zuletzt behaupten konnte, war Jahre her. Und wie ich mir nun eingestehen musste, trug Linelle einen wesentlichen Teil zu meinem Empfinden bei. Mein aktuelles Gefühl bestätigte mir das zweifellos, auch wenn es mir keineswegs entgegen kam. Sie ließ mich irgendwie anders denken, anders fühlen. Nicht ganz so inkompetent und ungeachtet wie ich es kannte. Ob es ihre Art war? Sicher nicht. Grundsätzlich gab sie sich zwar sympathisch, war aber zumeist eine verschlossene Zicke, sobald man ihr zu nahe kam. Diese Erfahrung hatte ich selbst mehrfach gemacht, dabei war ich doch ganz ähnlich gepolt. Ab einem gewissen Punkt, wurde ich abweisend, denn ich ließ niemals meine Fassade einstürzen. Sie bedeutete Schutz und Distanz, wenn ich schon nicht mit Autorität arbeiten wollte. Dennoch hatte ich sie einfach nicht verstehen können, weil ich es gewohnt war, dass Leute schnell Vertrauen zu mir fassten. Irgendetwas musste ich wohl an mir haben. Doch nicht Linelle. Distanzierte ich mich nicht von ihr, tat sie es von mir. Und trotzdem trat immer wieder diese Spannung zwischen uns auf, wenn wir uns begegneten. Von Situation zu Situation schien sie greifbarer zu werden. Ab und zu zweifelte ich noch immer, ob sie real war, weil weder sie noch ich ihr Beachtung schenken wollte und wir taten, als würde sie nicht existieren. Aber je mehr Zeit verging, desto deutlicher nahm ich sie wahr.
Das kann ihr doch nicht entgehen, oder?

Das Wunder ihrer AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt