2. Das nervenzereisende NICHTS

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Für die nächsten Tage zog ich zu einem anderen Patienten in sein Zimmer. Er war 2 Jahre älter als ich und litt an Schizophrenie. Wir verstanden uns blendend und generell viel mir auf, dass hier keine Menschenfresser und Psychopathen waren, die ihre Zahnabdrücke in den Schränken hinterließen. Es waren alles normale Menschen, wie man sie auf der Straße fand. Und die gemeinsame Last schweißte uns extremst zusammen. Wir waren die einzigen die uns zu unserem Vorteil therapierten. Die uns glaubten. Die uns aufbauten. Denn ander taten es nicht. Weil sie es nicht wollten, konnten, oder durften.

Was ich am Anfang mit am schlimmsten empfand, war die Leere.
Denn was tust du den ganzen Tag, wenn du weder Pflichten noch abwechslungsreiche Beschäftigung hast?

Und da wurde ich auch schon in meinem ersten Punkt enttäuscht.
Wer denkt, dass jeden Tag jemand mit dir redet und an deiner psychischen Genesung arbeitet, wird jetzt wohl bitter enttäuscht werden. Denn die meisten hatten nur 2 Sprechstunden in der gesamten Woche. Es sei denn du sorgst dafür, dass man mit dir reden muss. Was natürlich den Nachteil hatte, dass sich das angestrebte "Gesundwerden", ins unendliche zog.

Also, was tat man den ganzen Tag?
Wir besaßen ein Radio im Gruppenraum. Was nur einen Sender hatte. ENERGY SACHSEN! Und da ist uns aufgefallen dass die 10 mal am Tag nur 22 verschiedene Titel spielen. Die einem irgendwann auf den Geist gingen, sobald man die Rheinfolge der Playlist auswendig kannte.

Wir hatten auch einen Fernseher. Der nur am Dienstagabend und einem Abend am Wochenende in Betrieb gesetzt wurde um ausgewählte Filme aus der Psychiatriebibliothek zu schauen.

Und ja, es gab Gemeinschaftsspiele. Die man nach 5 Tagen auch alle durch hatte.

Wenn man bedenkt, dass man im Durchschnitt (ohne Einberechnung von Tages– und Wochendausgängen und den Abweichungen des individuellen Schlafgebrauchs) 78 Stunden Freizeit in der Woche hat. (Herausgenommen sind die Sprechstunden und Essenszeiten, sowie Sitzungen) Dann ist das verdammt viel Zeit.

Und diese Zeit habe ich größtenteils aus dem Fenster nach draußen gesehen und die Menschen beobachtet oder mit meinem Mitbewohner Karten rauf und runter gespielt. (Nach meinem Aufenthalt kann ich 4 verschiedene Arten von Rommé)

Doch wenn einem all das zu viel oder zu langweilig wurde, war es die reinste Qual täglich auf die Zeiger der Uhr zu starren und zu warten. Ich fühlte mich wieder wie ein kleines Kind, dass sich ab Anfang Dezember auf Weihnachten freute. Mit dem Unterschied, dass das kleine Kind wusste wann Weihnachten war und jeden Morgen von einem Adventskalender darauf hingewiesen wurde. Selbst den Häftlingen im Gefängnis ging es nicht nur in diesem Punkt besser als uns, denn die wussten wann sie entlassen wurden.

Es tat jede Sekunde weh. Die Zeit zu zählen. Ohne zu wissen wann man endlich aus diesem langweiligen Loch raus kam.

Viele können es sich wahrscheinlich nicht besonders gut vorstellen, wie es ist andauernd nichts zu tun. Ein Mensch ohne Tätigkeiten ist ein Mensch ohne Perspektive.

Stellt euch jenes Gefühl vor.

Ihr steht nur in euren Anziehsachen in der Schule in einem Klassenzimmer. Die Tür ist verriegelt, die Fenster sind vergittert. Ihr besitzt nichts als die Kleider am Leib. Kein Handy –> Kein WhatsApp, kein Instagram, kein Wattpad :(

Nichts.

Und zu allem Überfluss findet nicht einmal der Unterricht statt.
Ihr könnt also nichts sinnvolles tun, oder etwas tun, was ihr sonst nie freiwillig tun würdet. Mit dem Wissen, dass die Person, die den Schlüssel für die Tür hat, eine unbestimmt lange Weltreise unternimmt.

Es ist auf Dauer grauenvoll und zerstört euch irgendwo. Ihr könnte eure Ziele aus den Augen verlieren, was in einer "Heilanstalt" nicht von Vorteil ist um genesen zu können.

Der Drang etwas unternehmen zu müssen, kann nicht befriedigt werden. Es ist wie der kurze Moment vor einem Orgasmus, nur das der Orgasmus nie eintritt und die Erektion nicht nach lässt. (Ein besserer Vergleich ist mir nicht eingefallen sry haha)

Never again! [Meine Zeit in der Jugendpsychiatrie]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt