Kapitel 1

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Seit einigen Tagen lag ich nun in meinem Zimmer. Damals war es noch ein zuhause gewesen, doch nun fühlte es sich anders an. Als wäre ich irgendwie fehl am Platz. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich hatte mir heute einiges vorgenommen, zumindest was meine Verhältnisse anging. Heute wollte ich zum ersten Mal seit der Entlassung mein Zimmer verlassen. 

Meine Lider fühlten sich schwer an. Langsam ließ ich den Blick durch den Raum wandern und betrachtete meine Sachen. All dies war mir so fremd geworden, als wäre ich nie hier gewesen. Vielleicht war das ja wirklich eine andere Mary gewesen. Es fällt mir leichter das zu denken, als der Wahrheit ins Auge zu blicken. 

Langsam schwang ich meine Beine über die Bettkante. Der Wecker an meinem Nachttisch verriet mir, dass es schon weit nach 12 Uhr war. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und stand auf. Meine Glieder waren steif vom langen Liegen und ich spürte, dass ein wenig körperliche Betätigung längst überfällig war. Ich zögerte nicht lange, warf achtlos irgendwelche lockere Kleidung über mich und ging auf die Tür zu.

Meine Hand verharrte noch lange auf dem Türgriff. Ich atmete einige Male tief durch, bevor ich mich traute, die Klinke runter zu drücken. Erst nachdem ich die Tür einen Spalt geöffnet hatte, merkte ich, wie hell es draußen eigentlich war. Die Sonne strahlte in den Flur des Hauses meiner Eltern und ich blinzelte heftig. 

"Mary?"

Ich erblickte meine Mutter, die auf der Treppe stand und mich ungläubig anstarrte. Langsam verzog sich ihre Gesicht zu einem kleinen Lächeln.

"Du bist ja schon wach, Süße. Wie geht es dir? Möchtest du mit deinem Vater und mir essen?"

Langsam schüttelte ich den Kopf und bereute es instinktiv, als ich die enttäuschte Miene meiner Mutter sah. 

"Aber ich...ich setze mich gerne zu euch. Ich bin gerade erst aufgewacht und habe noch keinen großen Hunger."

Ich erkannte meine eigene Stimme kaum wieder. Ich klangt so klein und verletzlich. Irgendwie kaputt.

"Schon okay Liebling. Komm, wir gehen gemeinsam ins Esszimmer."

Mum machte auf dem Absatz kehrt und ging nach unten. Sie wandte sich immer wieder kurz um, um sicher zu gehen, dass ich ihr folgte. 

Auch Dad war sichtlich überrascht, mich zu sehen. Seit der Entlassung hatte ich mein Bett nicht verlassen. Die Fenster meines Zimmers waren die ganze Zeit über zugezogen gewesen und ich hatte kaum etwas gegessen. Heute sollte sich das ändern.

Während sie aßen unterhielten sich Mum und Dad über die Arbeit. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und ließ meinen Blick über die Veranda streifen. Die Sonne schien unaufhörlich zu strahlen. Die Blumen in unseren Garten fingen einer nach der anderen an, ihre Blüten zu öffnen. Nicht mehr lange und der Garten würde in allen Farben des Regenbogens strahlen. 

Ich stand auf und ging zur Terrassentür hinüber. Mum und Dads Gespräch war verstummt und sie sahen mir hinterher, während ich die Hand ausstreckte und die Tür langsam öffnete. Ein lauer Frühlingswind kam mir entgegen und ich setze einen Fuß nach draußen. Wie ungewöhnlich friedlich es sich hier im Garten anfühlte. Das Gras unter meinen Füßen war kühl und frisch. Ich schloss die Augen und genoss den Moment der Stille. 

In diesem Moment fühlte ich mich das erste mal seit einer langen Zeit wieder lebendig. Ich spürte, wie sich die Blumen vor mir im Wind bewegten. Ich schlenderte durch den Garten und ließ meine Hände über die Köpfe der Blüten streifen. 

Ein Knacken auf meiner linken Seite lies mich zusammenfahren und ich drehte mich schnell in die Richtung, aus der ich das Geräusch vernommen hatte. Ich starrte direkt in die ungläubig aufgerissenen Augen eines großen, gut aussehenden Kerls. Er stand auf der anderen Seite des Zaun im Garten meiner Nachbarn und hatte eine Art Gartenschere in der Hand. Ich hatte ihn noch nie in meinem Leben gesehen und so fassungslos wie er mich anstarrte, er mich sicherlich auch nicht. 

Vorsichtigen Schrittes verzog ich mich rückwärts in Richtung Haus. Mein Herzschlag hatte sich beschleunigt und ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Die Panik überrollte mich und ich versuchte zu schlucken, doch mein Körper leistete mir keine folge mehr. 

"Hey, warte!", rief der Kerl zu mir rüber. Ich erschrak erneut und konnte plötzlich nichts anderes mehr als rennen. Ich sprang auf die Verandatür zu, zog sie hastig auf, sprang ins Haus und warf die Tür hinter mir zu. Atemlos starrte ich in die weit aufgerissenen Augen meine Eltern.

"Spätzchen, was ist denn los?", fragte Mum hastig. Sie prang auf und kam mit offenen Armen auf mich zu. Atemlos ließ ich mich in ihre Umarmung fallen und schloss die Augen. Mein Herz beruhigte sich langsam. 

"Möchtest du mir erzählen, was los ist Mary?", fragte Mum und sah mich eindringlich an.

Ich schüttelte den Kopf und sank zurück in ihre Arme. An diesem Tag verließ ich das Haus nicht mehr. Und auch am darauffolgenden Tag nicht. 

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