Kapitel 57

2K 109 155
                                    

Ein junger Kellner empfing uns freundlich. In seiner Hand hielt er ein Tablett. Während die eine Hälfte der Gläser offensichtlich mit Champagner gefüllt waren, war die andere Hälfte mit Orangensaft gefüllt.

Demnach nahm ich ein Glas Orangensaft und lächelte dem jungen Mann zu, wobei River mir gleich tat. Dass er nicht zu dem alkoholischen Getränk griff, war doch wirklich ein Wunder. "Für dich kein Champagner?", fragte ich neckend, bevor ich einen Schluck nahm.

River ließ den Blick durch die Festhalle schweifen, bis seine Augen wieder auf meine trafen. "Jedes Jahr muss ich mich zuerst antrinken, damit dieser Abend einigermaßen erträglich ist", erklärte er, was ich mit einem verstehenden Nicken quittierte. Er setzte mit Reden fort.

"Doch dieses Jahr habe ich mir zum Ziel gesetzt, nicht zu trinken. Ich will mir beweisen, dass ich auch ohne Alkohol kann." Dass er dabei wohl gemerkt stolz klang, war nicht zu überhören. "Sehr vorbildhaft, River", erwiderte ich amüsiert. "Muss ich dich also davon fernhalten?"

"Ganz genau", bestätigte er grinsend. Also gut, ihn von Alkohol und seiner Schwester fernhalten. Das kriegte ich gewiss hin. "Abgesehen davon will ich für Mom einen guten Eindruck machen. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass wir uns wieder als Familie in der Öffentlichkeit blicken lassen."

Seine Stimme klang leise, während seine Worte nach einer Beichte klangen. Ein Lächeln umspielte meine Lippen, als ich bemerkte, wie viel ihm das bedeutete. "Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich für dich freue, River. Es ist echt toll, dass du dich mit deiner Mutter bestens verstehst."

Er nickte eifrig. Ich erinnerte mich zurück an den Tag, an dem wir stundenlang über ihre Rückkehr sprachen. River erzählte mir von ihrem Gespräch, von ihren Gründen, wieso sie sich nie meldete und wie sehr ihr all das leid tat.

Ich persönlich fand, dass ihr Verhalten nicht richtig gewesen war. Statt ihm jahrelang das Gefühl zu geben, sie wolle nichts von ihm wissen, hätte sie ihm ihre Sorge schildern müssen. Zu sagen, dass sie bloß Zeit für sich brauchte, war egozentrisch und keinesfalls entschuldbar.

Bekanntlich nahm ich keinen Blatt vor den Mund, weswegen ich River auch meine Meinung dazu ehrlich offenbart hatte, wobei er mir überraschenderweise nur zustimmen konnte. Im Nachhinein erfuhr er, dass sie sich auch aus Angst und Scham von ihm fernhielt.

Schließlich ließ sie ihren einzigen Sohn zurück, riss dadurch auch seine Schwester von ihm, obwohl die zwei Geschwister miteinander förmlich unzertrennlich aufwuchsen. Sie haute feige vor ihren Problemen ab, weil sie sich denen nicht länger stellen wollte.

Dass auch sein Vater die Finger im Spiel hatte, war nun wirklich nicht willkürlich. Dieser gab unter anderem seiner Ehefrau das Gefühl, River wolle nichts mehr von ihr wissen. Diesen Schwachsinn glaubte sie, wodurch beide Elternteile ihrem Kind bloß Kummer bereiteten.

Letztendlich trafen River und ich die Entscheidung, nicht länger die Vergangenheit festzuhalten. Wir schlossen Frieden mit unseren Eltern, vergaben ihnen ihre Fehler und blickten von nun an bloß in die Zukunft. Ein nachträgerisches Verhalten nützte uns beiden nämlich nichts.

"Soll ich dir einen Tipp geben?", fragte er und ich merkte, dass ein Hauch von Spott in seinem Ton mitschwang. Erwartungsvoll blickte ich ihn an. River trank sein Getränk aus und stellte es schnellstens auf das Tablett, das der Kellner, der gerade an uns vorbei lief, in der Hand hielt.

"Meide den Blickkontakt zu diesen Leuten, denn dann kommen sie erst recht nicht auf die Idee, dich anzusprechen. Somit ersparst du dir ätzende Gesprächsthemen über Geld, Macht und Geschäftspolitik..."

In den nächsten dreißig Minuten stellte sich sein Tipp als wenig hilfreich heraus. Blickkontakt hin oder her, trotzdem kamen wir mit vielen Gästen ins Gespräch. Jeder erzählte zwar etwas anderes, aber dennoch kam es im Endeffekt auf das Gleiche hinaus.

You are my color | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt