ViEr

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Ich gehe zu weit

Einen Schluck, den darfst du noch.
"Und einen Schluck nehme ich mir."
Einen Zug, den darfst du noch.
"Und einen Zug nehme ich mir."
Einen Schnitt, den darfst du noch.
"Und einen Schnitt nehme ich mir."
Einen Schritt kannst du noch gehen.
"Und ich bleibe stehen."

Wer läuft betrunken,
durch Nacht und Wind?
Oh, das bin ich,
das verzweifelte Kind.
Ich halte sie sicher,
und sie wird warm,
die Flasche Vodka,
in meinem Arm
.
Betrunkene sagen immer die Wahrheit, nicht wahr?
So lasset mich die Wahrheit verkünden:
Das Leben ist Mist.
Ich taumel durch die beleuchtete Stadt, bin beinahe wieder nüchtern.
Ich bin auf der Suche, aber ich kann nichts finden.
Überall sind Menschen.
Große und Kleine.
Ich werde angerempelt, hier und da auch angeschrien und beleidigt.
Aber ich habe doch nichts verkehrt gemacht?
Ich kneife meine Augen zu und wünsche mich in meine Wohnung.
Es ist laut.
Viel zu laut.
Überall Geschrei und Hektik.
Der Bahnhof.
Ich muss zum Bahnhof.
Doch wo ist der Bahnhof?
Wo bin ich?
Ich folge den Massen, ich bewahre Ruhe, so wie man es mir beigebracht hat.
Menschen fragen mich, ob alles in Ordnung ist, doch ich nehme sie kaum wahr.
Ich nicke es ab und kämpfe mich weiter durch die Menschenmengen.
Ich bewege mich wie maschinell vorwärts, wie in Trance setze ich einen Fuß vor den anderen, nehme die Welt wie durch Dämmwolle wahr.
Eine Bushaltestelle.
Ich muss zur nächsten Bushaltestelle.
Ich kann sie sehen.
Meine Schritte werden größer und weiter, meine Beine bewegen sich schneller, fast schon im Sprint nähere ich mich.
Außer Atem bleibe ich stehen.
"Opernhaus".
So heißt die Haltestelle.
Ich sehe wieder klar.
Ich weiß, wo ich bin.
Auf einmal kehrt die Lautstärke zurück und überrollt mich wie ein Tsunami.
Sie zwingt mich auf die Knie.
"Aufhören!", rufe ich verzweifelt.
"Aufhören!"
Doch keiner hört mir zu.
Keiner beachtet das kleine Mädchen, welches zusammengekauert am Straßenrand liegt und schreit.
Sie sind zu laut, um mich wahrzunehmen, zu laut.
Es ist zu laut.
Viel zu laut.
Ich habe Angst.
Ich will nach Hause.
Es soll aufhören.
Einfach aufhören!
Ich presse die Hände auf meine Ohren, kneife meine Augen zu, Tränen fließen wie in einem Wettrennen über meine Wangen, mein Mund ist ausgetrocknet, ich kann nicht schreien.
Ich bin weit weg.
So weit weg von zu Hause.
Ich kann das nicht.
Ich gebe auf.
Ich gebe auf!
Ich öffne meine Augen.
Ich bin nicht mehr draußen.
Ich bin Zuhause.
In meiner Wohnung.
In meinem Bett.
Es ist 2 Uhr und 36 Minuten.
Es ist nachts.
Ich bin nüchtern.
Ich trage einen Pyjama.
Es war nur ein Traum.

Nur ein Traum.

SinkingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt