Sofort nahm Richard die Hand von Pauls Schulter und sah ihn voller Entsetzen an. Wie konnte er es wagen, soetwas zu behaupten? Wie kam er überhaupt darauf, soetwas zu sagen oder zu vermuten? Richard wollte ihn für diese Aussage am liebsten an die anderen verraten, sodass er ausgestoßen, wenn nicht sogar getötet wurde, doch er blickte ein letztes Mal in Pauls Gesicht und sah, wie ihm Tränen über die Wangen liefen. Er kannte Paul kaum, doch er hatte das ungute Gefühl, jetzt einen seiner wichtigsten Lebensabschnitte zu kennen, seine Kindheit und deren dunkle Seite. Noch immer war er fassungslos, doch war es viel mehr die Befürchtung, er könne mit dieser Aussage Recht haben. "Was bringt euch zu dieser Annnahme?", fragte er nun in einem etwas strengeren Ton, auch wenn er wusste, dass er sanfter sein sollte. Er wollte Klarheit und hoffte, diese Aussage würde nicht der Wahrheit entsprechen.
Was ihn zu dieser Aussage brachte? Seine Angst steigerte sich in eine Art von Wut. Nicht der Ärger, den man auf jemanden verspürte sondern der Konflikt, den man mit sich selbst nicht ausbaden konnte. "Sicherlich Gottes Wille, guter Herr.", sagte er schon fast zischend, er stand ohne ein weiteres Wort auf und machte auf der Ferse Kehrt zu den Häuserreihen. Natürlich hatte ihm Richard nicht geglaubt, welchen Grund hatte er denn auch. Janosch kannte er bestimmt nur vage. Paul wusste, dass er einige Male im Kloster seines Bundes gewesen war, um die Priester weiter auszubilden, mehr nicht. Die Tränen wischte er schnell weg.
"Warte!", rief Richard, fast schon zu laut, stand auf und lief Paul hinterher. Als er ihn erreicht hatte, packte er ihn an seiner Kutte und zog ihn zurück. "Ist das wahr?", fragte er nun ganz aufgebracht, doch Paul gab keine Antwort, er sah Richard nur an. Erneut liefen Tränen über seine Wangen, die er schnell versuchte wegzuwischen. Richard sah ihm in die Augen, welche vor Tränen glänzten, dann umarmte er Paul plötzlich. Er war nicht sicher, warum er das tat, es war ihnen immerhin verboten, sich so nahe zu sein, doch er konnte nicht anders. Was Paul erzählt hatte passte so gut mit Richards Erkenntnis über die Kirche zusammen. Der Wille der Kirche war nicht der Wille Gottes, es war viel mehr das Gegenteil.
"Priester-", sagte er anfangs fassungslos, doch ließ diese Aussage fallen. Verfiel voll und ganz der Umarmung. Wann hatte er je in seinem Leben als Mönch eine Umarmung erhalten. Zögerlich legte er seine Arme um Richard. Es war leise. So leise, dass es einem in den Ohren dröhnte.
Dann verzog er das Gesicht und fing an, bitterlich zu schluchzen, versteckte das Gesicht tief in Richards Gewand. Unruhig regte sich sein Buckel unter seinem Heulen. 'Gottes Wille.'
Verdammt, immer musste es Gottes Wille sein. Wer war dieser Gott?
Jede Tat lag in Gottes Sinne, folgte seinem Wort.
Paul war nicht derjenige, der die Umarmung löste, er hätte ewig so dastehen können. Die Wärme einer anderen Person zu spüren, es war so fremd. Paul war sich all die Jahre selbst der Nächste gewesen und hatte nicht bemerkt, wie sehr er diese Nähe doch brauchte. Am wenigsten hätte er solch eine Art Verständnis von Richard erwartet, er glaubte sogar, dass er Paul immer noch nicht recht glaubte. Denn wer war Paul, um einem Priester von Schandtaten eines anderen Priesters zu erzählen? Ganz recht; Nur ein Mönch, dem die Stimme in den Massen erstickt werden würde.Richard hörte das Schluchzen, spürte das Zittern und hielt den jungen Mönch fest in seinem Arm. Er konnte den Schmerz verstehen, den Paul fühlte und wünschte sich von tiefstem Herzen, den Tod von Pauls Peiniger. Richard tat es in der Seele weh, soetwas zu erfahren. Wie konnte man sich nur an einem Kind vergreifen, an einer so unschuldigen Seele?
Eine einzelne Träne verließ Richards Auge, lief seine Wange hinunter und tropfte ins Leere. Die Welt war eine schlechte und das schlimmste in ihr war die Kirche, da sie solche Dinge zuließ. Er wollte Paul nicht mehr loslassen, nicht bis dieser ihm all seinen Schmerz erzählt hatte. Auch bemerkte er, dass sein eigenes Leiden nichts im Vergleich zu Pauls Vergangenheit war.Paul krallte sich mit seinen zierlichen Fingern hilflos an den schwarzen Stoff des Priesterkleides. "Ich war nicht der einzige.", brachte er nach einer gefühlten Ewigkeit hervor. "Die, die ihren Mund aufmachen wollten, hatten keine Stimme oder wurden, nachdem sie sich öffentlich ausgesprochen hatten nie mehr gesehen. Ich habe bis zum heutigen Tage eine solche Angst vor diesem Mann, Priester.", er flüsterte schnell und kam kaum zu einem Atemzug.
Richards Herz zersprang in tausend kleine Splitter, als er das hörte und er glaubte langsam in einem seiner furchtbaren Alpträume gefangen zu sein. Er konnte es nicht glauben, das die Kirche solche Dinge duldete. Noch mehr schmerzte es ihm, als er sich zurück errinerte, an das, was Oberpriester Christian heute verkündet hatte. Es hieß, bald würde ein weiterer Priester erscheinen und schauen, ob sie ihrer Bestimmung nachgingen. Dieser Priester würde mit höchster Wahrscheinlichkeit Janosch sein. Richard wusste wie panisch Paul werden würde, doch er sagte es ihm trotzdem, damit er sich wenigstens ein bisschen darauf vorbereiten konnte.
Paul sah sich nun gezwungen, die Umarmung zu unterbrechen und er sah den Priester aufgelöst und schockiert an. "Ich werde nicht die Kraft haben, anwesend zu sein.", gab er zu. Paul kannte man nicht, als jemanden, der sich verkroch oder ähnliches. Für gewöhnlich nahm er alles auf die leichte Schulter und war jederzeit zu helfen bereit. Obwohl er heimlich als Ungläubiger im Bunde fehl am Platz war, so sprach ihm die Lebensweise der Mönche trotzdem zu, etwas anderes kannte er in seinem Leben nicht. "Ich werden den Tag missen, Richard.", kündigte er schüchtern an.
"Er wird nicht nur für einen Tag hier erscheinen und auch du musst anwesend sein, wenn er uns kontrolliert.", sprach Richard und wischte Paul die Tränen aus dem Gesicht. "Es tut mir so leid, doch keiner von uns kann es ändern. Es ist schwer für dich, ich weiß, doch glaub mir, ich werde auf dich Acht geben, dir wird nichts passieren." Er schenkte Paul ein sanftes Lächeln und sah ihm in die Augen. "Ich weiß nicht, was es ist, doch du scheinst mich zu verändern, im guten Sinne. Nun geh zurück und leg dich schlafen, du brauchst die Ruhe. Ich werde noch ein wenig hier bleiben, doch sorge dich nicht um mich, Gott wird auf uns Acht geben."
Pauls Puls schlug in die Höhe. Das musste die schlechteste Nachricht sein, die er je in seinem Leben erhalten hatte.
Er fand es äußerst fürsorglich, wie der Priester vom 'Sie' auf das 'Du' umschwung, es würde dauern bis sich der Mönch daran gewöhnt hatte, aber er war mehr als dankbar für Richards Worte. Als er ihm mit seinem Ärmelkleide die feuchten Wangen trocknete, wurde Paul ein wenig wärmer um das dunkle Herz. Er nahm das Lächeln des Größeren in sein Herz auf und obwohl er es nicht schaffte, zurückzulächeln, sah man ihm den Dank im Angesicht an, den er darbrachte.
Als er erwähnte, dass der kleine Mönch ihn verändere hatte Paul kurz Angst. Verändern? Wie denn das? Er machte ihn doch nicht weniger gläubig, das wollte er nicht. Richard war ein streng gläubiger Christ, wenn er wegen Paul diesen Glauben verliere, dann wüsste Paul nicht mehr, was er denken sollte.
Gott würde auf sie Acht geben? Genau wie damals.
Der Kleinere atmete tief aus. "Ich danke Ihnen- ah- Ich- Ich meine, ich danke dir.", stammelte er, denn er war noch völlig überwältigt, dass es keinen Ausweg gab, durch den er ein Zusammentreffen mit dem gefürchteten Mann verhindern könnte. Aber Richard versprach Acht zu geben. Er würde auf ihn aufpassen und ihn beschützen, wiederholte Paul in seinem Kopf und er nickte.
"Ja, du behältst Recht.", er sah auf. "Ich werde zurückgehen. Gute Nacht, Richard.", er stand noch kurz da und schaute in die vom Mond erhellten Augen vom Angesprochenen, bevor er den Kopf senkte und niedergeschlagen seinen Weg ins Dorf antrat. Sein Herz war schwer, doch mit der Kenntnis, jemanden wie ihn auf seiner Seite zu haben, für die folgenden Höllentage, schlief er schon bald behütet ein.Paul war eine gute Seele, ein so liebevoller Mensch, sodass Richard ihn nur gern haben konnte. Nie hätte er gedacht, dass er sich einst so um einen Menschen Sorgen könnte, doch nun tat er es.
Er sah zu, wie Paul in der Dunkelheit verschwand, wandte sich dann selbst um und lief zu dem Bächlein zurück. Es war zu dunkel, um die Schrift in der Bibel erkennen zu können, auch hatte Richard sich keine Kerze mitgenommen und so saß er nur da, im Stillen und versank in Gedanken. Zuerst dachte er an die Wanderungen und Geschehnisse der letzten Tage zurück, an all die schönen Landschaften die sie gesehen hatten. Er hörte das Lied in seinem Kopf, welches Paul gesungen hatte, als sie durch das Tal schritten, doch mit der Zeit wurden die Gedanken des jungen Priesters immer düsterer. Er kam der Realität immer näher und gelangte irgendwann an dem Moment an, an dem er sich Pauls Erzählungen wieder ins Gedächtnis rief. Die Erzählungen von einem Priester, wie Richard selbst einer war, der sich an unschuldigen Kindern vergriff und diese sogar töten ließ, wenn sie ihr Leid klagten. Nichts hatte die Kirche dagegen unternommen, nichts was Paul erwähnt hatte. Auch wurde er nicht von Gott dafür bestraft, was Richard aufeinmal zweifeln ließ. War Gott denn wirklich so gerecht, wenn er solche Dinge zuließ? Schnell verdrängte Richard diesen Gedanken und starrte in die Dunkelheit, bis auch er beschloss ins Dorf zurückzukehren.
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Für dich begeh ich eine Sünde, mögen es auch zweie sein
FanficAngst um die Seele nach dem Tod, Schweigen und ewige Verleumdung. Einmal im Leben findet sich jeder in seinem schlimmsten Teufelskreis wieder. Alte Gesichter und altes Leid trüben das ach so friedliche Bild der Kirche. DISCLAIMER: diese Story enthäl...