Die Frau mit dem Regenschirm

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Feuchtigkeit und Nässe rissen Francis aus seinem tiefen Schlaf. Unter Schmerzen konnte er sich kaum bewegen, hielt sich dann aber doch eine Hand vors Gesicht, um es vor den prasselnden Regentropfen zu schützen. Langsam bemühte er sich um die Orientierung und sah sich um. Um ihn herum erkannte er einen weiten See mit Steg und hohen Gräsern, die den Himmel empor stiegen. Die Regentropfen trafen darauf und sammelten sich. Soweit er in die Ferne sehen konnte, erkannte er nur Wälder und diesen klaren, stillen See. Kein einziges Geräusch abgesehen von dem Prasseln war zu hören. In aller Ruhe drehte er seinen Kopf und bemerkte den stechenden Schmerz in seiner Hinterkopf- und Stirngegend. Er verzog sein Gesicht unter dem Einwirken des Schmerzes und zischte dabei. Schließlich entschloss er seine Augen wieder zu schließen und einfach nur die Ruhe zu genießen. Er erinnerte sich nur an stumpfe Schläge, Tritte und Beschimpfungen, aber kannte nicht einmal seinen eigenen Namen mehr. Nur verschwommene Bilder entstanden in seinem Kopf, aber keine bekannten Gesichter oder Tathergänge. Nichts weckte seine Erinnerungen und es verunsicherte ihn. Warum befand er sich dann an diesem Ort und lag im triefenden Schlamm? Warum trug er eine Uniform und wieso war er allein? Woher stammte er und wo war er überhaupt? Wie war sein Name? Was war passiert? Hatte er Familie, die daheim besorgt auf seine Rückkehr wartete oder ihn für tot hielt? Verzweifelt seufzte er und versuchte trotz Kopfschmerzen sein Gedächtnis aufzufrischen. Krampfhaft gestalteten sich die horrormäßigsten Szenarien vor seinem inneren Auge. Blut über Blut und als er seine eigene Hand begutachtete, sah er auch da Dreck und blutige Stellen, aber keine offenen Wunden. Die schlimmsten Befürchtungen breiteten sich in seinem Gewissen aus. Hatte er gemordet? Was um alles in der Welt war ihm passiert und wie konnte es soweit kommen?

Es vergingen Minuten, wenn nicht sogar Stunden, in denen er sich und seinen gesunden Menschenverstand verlor. Francis verlor die Hoffnung sich von allein erinnern zu können. Die Schmerzen wurden unausstehlicher und bereiteten ihm die schrecklichsten Krämpfe seines Lebens. Allmählich freundete er sich auch mit dem Gedanken an Ort und Stelle zu sterben an. Aber dann bildete er sich ein, die Stimme eines Kindes wahrzunehmen, die nach ihrem Vater rief. Wie verzweifelt und schizophren man doch sein konnte, wenn man dem Tod nah war.

Weitere Zeit verging und schien ihn aufzufressen. Der Regen stoppte nicht und fühlte sich prügelnd an. Francis spielte mit dem Gedanken sich im See zu ertränken, hielt sich aber immer wieder zurück. Schlussendlich sah er hinauf in den verdunkelten Himmel und beobachtete den Fall der Tropfen, die den Dreck langsam von seinem Körper wuschen. Doch dann spürte er eine weitere Präsenz und öffnete seine Augen. Vorsichtig setzte er sich auf und hielt sich den schmerzenden Magen. Er drehte sich und entdeckte in nicht weiter Entfernung eine Frau in dunkelblauen Mantel und schwarzem Regenschirm. Er erkannte ihr Gesicht nicht. Nur blasse rosa Lippen waren zu erkennen und glatte brünette Haare, die sich sanft über ihre Schultern legten. Sie schützte sich mit dem Schirm vor dem Regen und trug sogar schwarze Absatzschuhe. Ihr Antlitz wirkte elegant und autoritär zugleich. Francis war verwundert, was eine so schöne Frau an so einem Ort zu suchen hatte, sagte aber nichts. Kein Wort gelang über seine Lippen und auch sie schwieg vorzugsweise. Unter dem Regenschirm beobachtete sie ihn aus sicherer Entfernung und starrte ihn an. Keiner von Beiden regte sich auch nur. Sie sahen sich nur an.

Langsam setzte die schöne Frau einen Schritt voran und näherte sich Francis. Es fühlte sich an wie Ewigkeiten, bis sie nur noch kurz neben ihm stand. Mit ruhiger Stimme fragte sie ihn:,, Sie möchten sich erkälten?" Erst wusste Francis nicht, was er darauf am besten antworten sollte, entschied sich dann allerdings einfach für das Schweigen.  Sie nickte unter dem Schirm und bat ihn aufzustehen und ihr zu folgen, doch Francis folgte ihr keinen Meter. Sobald er stand, wurde ihm schwarz vor den Augen. Nur verschwommen nahm er noch die eigene Hand vor den Augen wahr. Er sah, wie die junge Frau loslief, ohne sich umzudrehen. Francis streckte die Hand nach ihr aus und äußerte nur noch ein kurzes:,, Hilfe", bevor er zu Boden ging und ihn die Ohnmacht erneut einholte.

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