Wir werden uns wiedersehen, Soldat.

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Es geschah, wie es geschehen musste.
Francis trat langsam mit schweren Schritten die Stufen hinunter und kam ins Blickfeld der deutschen Soldaten der SS. Es waren Hitlers Handlanger. Sie äußerten die bekannte Überlegenheit mit dem schikanierenden Grinsen. Francis hatte genug von ihrem falschen Ambiente. Er steckte die Hände in die Taschen der Trägerhose und stellte sich dem Offizier entgegen. Sie begrüßten ihn mit einem verwunderten Lächeln:,, Schuster? Sieh an. Sie leben ja noch."
Schuster war also sein Name. Es holte jedoch immer noch keine Erinnerungen zurück. Er wollte keine Worte wechseln, also lief er an den Herren vorbei in Richtung Ausgang. Sie verabschiedeten sich höflich und folgten ihm. Zwei Männer nahmen ihn an den Armen fest und führten ihn grob zum Wagen. Ab und zu löste er sich aus den Griffen seiner Abführer und beschwerte sich, dass er auch allein laufen könne, aber sie griffen stets wieder zu und später mit festerer Gewalt.

Sie fuhren ihn eine gute Stunde in einem alten Wagen zu einer Kaserne nahe der russischen Grenze. Dort setzten sie ihn ab und warfen ihn in eine stockdüstere Kammer mit nur einem vergitterten, kleinen Fenster in weiter Höhe. Er lag im Schlamm und dachte auch den Geruch von Eisen, Blut und Tod zu riechen. Entweder sie setzten ihn an die Front und er würde innerhalb weniger Tage sterben oder sie erschossen ihn an Ort und Stelle wegen Volksverrates. Es gab nur wenige Stunden, die er auf dem kalten Boden zubrachte und irgendwann sich entschloss zu schlafen. Dann öffnete sich plötzlich die Tür der gegenüberliegenden Zelle. Er hörte den Schlüsselbund des Soldaten, die wütende Stimme einer Person und verfluchende Sprüche, die man lieber nicht aus dem Mund eines Kindes wahrnehmen sollte. Francis erhob sich nur mühselig aus seiner Position und schliff sich zur Tür. Dort stellte er sich nah an das Loch und versuchte Kontakt mit dem neuen Häftling aufzunehmen:,, Hallo?" Erst herrschte Stille, doch dann kam eine erstaunte Antwort zurück:,, Francis? Francis, du alter Dreckkriecher, bist du das??" Francis wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Er versuchte sein Gedächtnisverlust zu erklären:,, Entschuldige... Ich habe meine Erinnerungen verloren. Ich weiß nicht, wer ich bin und wie ich überhaupt wo hinkam. Wer bist du?"
,,Ich bins. Wilhelm Frankberg. Erinnerst du dich? Wir waren zusammen in Auschwitz stationiert!"
    ,,Auschwitz?"
,,Das Konzentrationslager? Dort, wo sie die Menschen ermorden?"
    ,,Sie bringen Menschen um?"
,,Ja... Wir waren nur Wachpersonal am Eingang. Wir wussten nicht, was im Inneren geschah. Dann hast du dich eines Tages dagegen gestellt, als wir davon erfuhren und wurdest zu Tode geprügelt. Zumindest dachten wir das. Wir alle haben uns mit deinem Tod auseinandergesetzt"
     ,,Ich lebe... Eine Familie an einem See,  nahe der ersten russischen Ortschaften hat mich aufgenommen und gepflegt."
,,Am See? Die Klischenko-Familie?"
     ,,Ich weiß nicht, wie ihr Familienname ist. Sie heißen Tristan, Elynore, Magdalena, Leony, etwas mit Henriette-"
,,Und du erinnerst dich wirklich an gar nichts mehr?"
     ,,Nein. Nichts."
,,Henriette... war deine jüdische Ehefrau, Francis", erklärte Wilhelm vorsichtig und doch monoton. Francis wurde still. Seine Frau? Er hatte also doch geheiratet? Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Er erinnerte sich an Leonys Worte auf dem Steg. Henriette wurde zusammen mit ihrem Sohn ermordet. Wenn Henriette seine Frau war...?
,,Hatte sie einen Sohn?", fragte Francis nach. Wilhelm antwortete sofort:,, IHR hattet einen Sohn. Hendryk erzähltest du mir."
Francis schluckte. Sie waren beide tot und offensichtlich war das seine einzige Familie. Die Menschen, die ihn aufnahmen und teilweise verachteten, waren Teil seiner Familie. Ihm wurde klar, dass er alles verloren hatte, dass ihm alles genommen wurde. Tränen bildeten sich in seinen Augen. Er griff nach dem kleinen Tagebuch in seiner Innenjackentasche. Das Buch hatte er mitgenommen, als sie ihn abgeführt hatten. Er blätterte in den Seiten und fand schließlich eine kleine Geschichte, die direkt nach dem Brief kam.

Es war der wärmste Sommer, den ich jemals erlebte in meinen zwanzig Jahren. Ich überquerte eben die nasse Straße, als ich bereits bemerkte zu stolpern, aber glücklicherweise von einem stützenden, starken Arm aufgehalten wurde. Als ich meinen Blick hob, erkannte ich das wunderschöne Gesicht eines makellos erscheinenden Mannes. Er trug die Uniform deutscher Soldaten, kümmerte sich aber nicht darum, dass ich den jüdischen Stern auf meinem hellbraunen Mantel trug. Er sah mich lächelnd an und stellte sich freundlich als Francis Schuster vor. Innerhalb von wenigen Sekunden verflog meine Angst auf eine Tracht Prügel und wurde von Liebe und Zuneigung ersetzt. Er war tugendhaft und machte mir viele Komplimente. Gemeinsam verbrachten wir Stunden beim Spazierengehen und bei einer Tasse Tee im Café um die Ecke. Seine blauen Augen faszinierten mich und dieses kindliche Lachen erfüllten mich mit Schwäche. Unsere Unterhaltungen waren voller Gelächter und Erkenntnisse von Gemeinsamkeiten. Wir sprachen liebevoll und respektvoll miteinander. Das, was ich von einem deutschen Soldaten am wenigsten erwartet hätte. Schon bei unserem ersten Treffen wollte ich ihn meiner Zwillingsschwester Elynore vorstellen. Sie würde ihn mögen, dachte ich immer wieder, während ich mich in seinen Augen verlor. Er lachte herzensfroh und nie war der Faktor meiner Herkunft und Religion ein Problem oder eine Unannehmlichkeit. Das schätzte ich sehr an ihm. Nach Stunden musste ich mich jedoch von ihm lösen und wie Aschenputtel Punkt Zwölf verschwinden. Schnell verabschiedete ich mich und wollte mich in Luft auflösen. Draußen öffnete ich meinen Regenschirm und wollte eben loslaufen, als mich ein starker Arm wieder davon abhielt. Dieser attraktive Mann stellte sich vor mich und bat mich um ein weiteres Treffen. Natürlich verneinte ich zunächst, da es als Problem angesehen werden würde, aber er überzeugte mich, griff nach meiner freien Hand und flehte mich an, dass er mich unter allen Umständen wiedersehen wollte. Da mein Interesse immer mehr stieg, beschloss ich schließlich doch zu zusagen. Mit einem kurzen: Winter 44, verschwand ich im Dunkeln der Berliner Straßen. Natürlich trafen wir uns täglich und nicht erst im Winter 1944. Wir lernten uns mehr kennen und nach 17 gemeinsamen Monaten erwartete ich ein Kind von ihm. Das ist nun mein lieber Hendryk, das Liebste was mir Gott schenkte. Um unsere Liebe zu besiegeln und meine Familie zu beschützen, beschlossen wir zu heiraten. Ich nahm den Namen Schuster an und trug ihn auch an meinen Sohn weiter. Doch mein geliebter Ehemann musste uns verlassen. Er wurde in den Krieg eingezogen und kehrte bisher nicht mehr zurück. Ich hoffe, dass ich ihn wiedersehe. Spätestens im Winter 1944, wenn wir unseren vierten Hochzeitstag und Hendryks vierten Geburtstag haben, möchte ich ihn in meine Arme schließen können. Ist das zu viel verlangt? Bringt mir meinen Mann heil nach Hause. Ich flehe euch an. Gebt meinem Sohn den Vater, den er sich wünscht. Gebt mir den Mann, in den ich mich an jenem regnerischen Tag verliebte.

Lass uns Winter 1944 treffen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt