Wag es nicht

7 0 0
                                    

Es war finstere, sternklare Nacht als Francis Elynore auf dem Steg am See entdeckte. Sie sah so wunderschön aus, wie ihre braunen Augen glitzerten. Sie schien der Eiseskälte zu trotzen und wirkte seelenruhig. Für einige Zeit beobachtete er sie und lehnte am Geländer des Hauses. Francis hätte schwören können eine so schöne Frau bereits gekannt zu haben, aber sein Gedächtnisverlust ließ es nicht zu, dies zu beweisen. Ihre aufrechte Haltung, ihr reines Gesicht und ihr elegantes Auftreten sprechen für das Verhalten einer Frau, die sich verschließt und nicht einmal fallen lassen kann. Erst nach vergangenen Minuten trat er einige Schritte näher an sie heran. Der Atem wurde deutlich in Nebelform vor seinem Mund. Er rieb sich die Arme unter der Winterjacke und schwieg. Nur Elynore bemerkte ihn schon seit geraumer Zeit, wandte ihren Blick von der Aussicht jedoch nicht ab. Sie sprach, ohne ihn anzusehen:,, Ist es schön keine Sorgen im Kopf zu haben?" Francis verglich die Frage mit seiner Amnesie und antwortete ehrlich:,, Nein." Elynore sah ihn kurzzeitig an und lauschte aufmerksam seiner Erklärung.
,,Es frisst mich auf. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, wo ich herkomme und wo ich hingehöre. Ich weiß nicht, ob genau in diesem Moment eine Familie mich für tot hält und sich die Augen ausweint. Ich kenne die Wahrheit nicht. Das ist Sorge genug."
Elynore nickte verstehend und sah zurück auf das weite, stille Wasser. Francis hatte recht und sie schien über etwas geduldig nachzudenken. Er fragte sich, ob sie wohl mit sich rang, über den Krieg zu sprechen, der am Horizont empor stieg. Er würde sie nicht verurteilen. Er würde darüber sprechen, was in seinem Kopf vor sich geht und sich endlich wieder etwas freier fühlen. Und tatsächlich. Elynore begann plötzlich zu fragen:,, Wie viele?" Als Francis mit ihrer Frage nichts anfangen konnte, stellte sie jene präziser:,, Wie viele Menschen sind bereits tot?" Francis senkte den Kopf. Er wüsste es selbst gern, aber wäre es besser gewesen, genaue Zahlen zu kennen, statt in der Ungewissheit zu leben? War es wirklich besser, darüber Bescheid zu wissen, dass unzählige Menschen an Gräueltaten nationalen Narzissmuses starben und die Erwartungen der Totenzahlen ins Unermessliche stiegen? Der Krieg war noch nicht vorbei. Er hatte eben erst begonnen und sobald die Euphorie für Krieg wächst, wird sie auch nicht stoppen.
,,Die menschliche Natur verlangt immer mehr. Wir können nicht genug haben. Wir können nicht bescheiden leben und dankbar sein, dafür was wir haben. Wir werden immer mehr versuchen zu bekommen und zu erreichen, bis es uns alle den Tod kostet. Wer die Chance bekommt, nach dem Ruhm und Prunk zu greifen, der wird auch nicht die Hände in die Taschen stecken, umdrehen und verschwinden. Er wird sie ausstrecken und danach greifen, sich strecken und sich den Arm auskugeln, solang bis man stirbt."
Sie hatte recht. Francis bewunderte ihre analytische Art Menschen zu lesen. Er liebte die Ruhe und sanfte Raffinesse in ihrer Stimme, die jeden Alliierten sofort überzeugen würde. Warum konnte er sich nicht erinnern? Vielleicht war das die Chance sein Leben neu zu beginnen? Vielleicht war das eine Möglichkeit die Vergangenheit auszulöschen und ein anderer Mensch zu werden. Francis wollte nichts mehr, als sich zu erinnern, aber das Verlangen und die Neugierde nach dem Neuen und Unerfahrenen reizte ihn noch viel mehr. Während er grübelte, beobachtete ihn Elynore im Spiegelbild des Wassers. Sie wirkte betrübt und undurchdringbar, und doch irgendwo verletzt und berührt. Die Porzellanhülle begann Risse zu bekommen.

Francis begann ohne nachzudenken zu sprechen:,, Wie fändest du es, ein Leben mit mir zu beginnen?" Anstatt, dass Elynore überrascht und beschlagen wirkte, schien sie viel mehr in Trauer und Demut zu versinken. Sie konnte Francis nicht mehr in die Augen sehen, schloss diese und versuchte somit die Tränen darin einzuschließen.
,,Willst du nicht wieder Medizin praktizieren?" Bei der Aussage war es um Elynore geschehen. Sie stand wütend auf und spuckte Francis förmlich ins Gesicht:,, Wag es ja nicht, zu behaupten, dass du mich kennen würdest!" Es versetzte Francis einen Schlag ins Gesicht. Ihre aufgebaute Wut und die geballten Fäuste boten Anblick auf die zerbrochene Hülle. Wieso reagierte Elynore so allergisch auf die Frage, was sie sich wünschte? Er konnte es sich nicht erklären und sah ihr geschockt in das verweinte Gesicht:,, Hör auf damit." Francis schaute ihr tief in die Augen.

,,Mami? Warum weinst du?", fragte die kleine Leony, die sich langsam aus dem Haus geschlichen und zu den beiden gesellte. Elynore strich sich die Tränen von der Wange und schob Leony in Richtung Haustür:,, Es ist alles in Ordnung, Liebes. Mami weint nicht. Los. Wir gehen zurück ins Haus und du musst schlafen." Leony schaute zwischen den beiden hin und her, bevor sie den Worten ihrer Mutter Folge leistete. Francis sah ihnen nach, bis sie die geschlossene Haustür trennte. Sein Atem war unregelmäßig. Sein Puls beschleunigt. Was hatte er sich dabei gedacht, sie damit zu konfrontieren? Es waren Privatangelegenheiten, in die er sich nicht zu mischen hatte. Er musste sich entschuldigen und sie um Verzeihung bitten, aber stattdessen stellte sich ihm Tristan in den Weg. Er war alles andere als erfreut und verschränkte die Arme vor der Brust:,, Wie kannst du es wagen, nach alldem, was sie für dich tat und was sie riskiert?" Francis senkte den Kopf und nickte. Er wusste, was er falsch gemacht hatte und wollte es auf gar keinen Fall ein zweites Mal tun.

,,Sie hat dich nicht nur vor deinem Tod gerettet. Sie hat ihre eigene Moral betrogen, weil sie an die Liebe ihrer Schwester glaubte und nie dran zweifelte."

Francis schaute Tristan fragend an. Was für eine Schwester? Soweit er sich erinnerte, existierten nur ihre Brüder und ihre Mutter und Tochter im Haus. Wo sollte sich also eine weitere Schwester befinden?

,,Sie hat drei Schwestern. Magdalena: Sie reist durch die Grenzgebiete und hilft den Dorfbewohnern vor den deutschen Soldaten. Gabriella: Sie kommt morgen von ihrer Journalismusreise zurück und... Henriette. Ihre Zwillingsschwester."

Francis glaubte, er höre nicht richtig. Vier junge Frauen und er kannte nur eine? Es war nicht unüblich. Warum sollte man ihn ja auch über alles in Kenntnis setzen? Er war das Monster der deutschen Armee gewesen und hatte wohlmöglich ganze Dörfer mordlustig abgeschlachtet. Natürlich würden sie ihm nicht trauen und ihm die komplette Familiengeschichte erzählen.

Lass uns Winter 1944 treffen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt