Die Geschichte

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Es vergingen weitere Tage und keiner konnte Francis Antworten liefern. Er hörte auch auf, etwas zu erwarten und war stattdessen dafür dankbar, was sie ihm boten. Keiner verriet ihn und ließ zu, dass er zurück zur Armee musste. Gabriella und Elynore waren die einzigen Personen, die sich noch mit ihm unterhielten. Leony sprach auch gern mit ihm und sie spielte vorzugsweise mit ihm. Francis sah in ihr eine Art Verbindung, konnte sie aber nicht zuordnen. Immer beobachtete Elynore die beiden mit Tränen in den Augen. Dann schickte sie Magdalena fort und starrte Francis mit durchdringendem, zornigem Blick an. Sie hasste ihn und hatte keine zwei Wörter mit ihm gewechselt. Liebend gern würde er sich auch ihr annähern, um sie umzustimmen, aber sie gab ihm keine Chance.

Die Tage wurden noch kälter. Der Schnee bedeckte die Landschaft mit einer dicken Decke. Oft stellte er sich an den zugefrorenen See und beobachtete das Naturspektakel. Wie auch an jenem Tag. Er atmete tief ein und aus, bis er Leonys Stimme vernahm. Sie stellte sich neben ihn und sah hinaus in die Ferne. Er bewunderte ihre mentale Stärke, obwohl sie im vergangenen Frühling erst sechs Jahre alt wurde. Sie sprach langsam und sanft:,, Es heißt, dass die Kälte unsere Emotionen mehr freisetzt, als sonst andere Jahreszeiten." Francis nickte. Sie war gebildet und las Bücher, die wohl erst an Universitäten bekannt gegeben wurden. Er verlor die Sprache, also fuhr sie fort:,, Ich mag den Winter. Mama hasst ihn"
,,Wieso?", erkundigte sich Francis. Leony hob den Blick und lächelte ihn traurig an:,, Weil meine Tante und mein Cousin vergangenen Winter ermordet wurden." Francis senkte betroffen den Kopf. Mordnachrichten waren nicht selten. Es herrschte Krieg. Nachfragen wollte er nicht. Er wollte dem kleinen Mädchen nicht zu nah treten. Nun konnte er jedoch eher verstehen, warum keiner den Namen der anderen Schwester erwähnte. Sie wurde ermordet. Jeder würde unter dem Verlust leiden und wie Francis erfuhr, stand sie als Zwilling Elynore natürlich am nächsten.
,,Mama hat den Tod nie verkraftet"
     ,,Das tut mir leid"
,,Wirklich? Tante Magda meinte, es würde dir nicht leid tun"
     ,,Meinte sie das?"
Das Mädchen nickte. Francis war enttäuscht. Sie kannte ihn nicht, hatte ihm nicht einmal eine Chance gegeben und sie kritisierte ihn bereits? Betroffen wandte er den Blick ab und seufzte:,, Scheint, dass mich deine Tante nicht besonders mag." Leony nickte. Sie war intelligent und verstand Zusammenhänge ziemlich schnell. Ohne sich weiter zu unterhalten, trat Elynore heran und führte Leony zurück ins Haus. Sie warf Francis nur einen undefinierbaren Blick zu. Ihr Gesicht war blass und ihre braunen Augen schienen leblos drein.

Stunden zogen vorbei und es wurde allmählich tiefe Nacht. Er verbrachte die Zeit mit Nachdenken. Also wurde Henriette ermordet mit ihrem Sohn zusammen. Die Familie trug großen Schmerz mit sich und vor allen Dingen Elynore litt unter dem Verlust.

Es war still im Haus, bis ein lautes, stürmisches Klopfen die Bewohner weckte. Tristan öffnete die Tür. Francis hielt sich halbwegs versteckt in der oberen Etage, beobachtete aber durch ein Loch in der Diele das Geschehen. Fünf Männer in vollkommener Uniform und Waffen betraten den Eingangsbereich. Die Sohlen ihrer Stiefel klangen auf dem Boden laut wieder. Der eine Mann begrüßte die Familie mit einem angewiderten Zischen:,, Juden." Die Familie blieb still. Magdalena drängelte sich an Tristans Seite und befragte die Männer nach dem Grund ihres Erscheinens. Der blonde Mann mit Mütze und Gewehr um der Schulter begutachtete die Flureinrichtung und griff unhöflich nach einem Bild von der Kommode. Dabei erzählte er:,, Uns wurde zugetragen, dass sie einen gesunden deutschen Soldaten bei sich halten." Magdalena verteidigte dies:,, Nein. Wir haben nichts mit ihren Soldaten zutun." Der Soldat lachte falsch und ging auf die junge Frau zu. Er griff grob nach ihrem Kinn und näherte sich ihrem Gesicht:,, Lüg mich nie wieder an, Kleines." Er ließ sie los, lief weiter um sie herum und warf einen kurzen Blick auf Elynore und Leony, die sich ängstlich an den Körper ihrer Mutter schmiegte:,, Also... Da wir euch Juden eigentlich ausliefern müssten, schlagen wir einen Handelsvertrag vor." Sofort reagierte Tristan auf den Vorschlag und fragte nach. Elynore wollte protestieren, aber Gabriella hielt sie am Arm zurück. Also schwieg sie. Francis versuchte seinen schnellen Atem ruhig zuhalten, scheiterte aber. Seine größten Befürchtungen wurden wahr.

,,Ihr liefert uns den versteckten Deutschen, der seiner Pflicht nicht nachgeht... und wir schenken euch das Leben. Wenn nicht... werdet ihr alle erschossen, wegen Gefährdung militärischer Maßnahmen."

Die Familie schwieg. Elynore stellte nun die Frage, die auch Francis beschäftigte:,, Was werden sie ihm antun?" Der Soldat sah sie lächelnd an. In seinem Lächeln erkannte man die pure Boshaftigkeit und die Richtung des Sadismus. Die Nazis waren ein Werk teuflischen Größenwahnsinns und besessener Dominanz. Francis konnte sich nicht vorstellen, einst für jene gearbeitet zu haben. Es beschämte ihn.
,,Er wird lediglich wieder an der Front stationiert, Miss."
Elynore schwieg, rang mit den Einflüssen ihrer Familie und ihrer Moral. Leony zog an ihrem Kleid und versuchte ihr etwas zu sagen, aber sie schob ihre Tochter nur in ein anliegendes Zimmer und schloss die Tür ab. Leony sollte nicht bemerken, was für Gräueltaten Die Welt offenbarten. Francis kniff die Augen zusammen. Sie würden ihn ausliefern. Sie würden ihn zurück auf das Schlachtfeld bringen, wo Menschen starben. Sie würden ihn nicht retten und das Wohl der gesamten Familie gefährden. Tristan sprach zum Soldaten:,, Sie werden uns nichts tun?"
,,Nein. Wir lassen sie alle lebendig zurück und vergessen diese Straftat"
    ,,In Ordnung"
,,Tristan!", schrie Elynore empört und wollte ihren Bruder aufhalten. Tristan jedoch dachte an das Leben und die Zukunft seiner Familie. Er würde sie alle retten, wenn es das Leben eines Einzelnen nur brauchte, den keiner wirklich vermissen würde.
,,Ely, sei still"
    ,,Er wird sterben!"
,,Entweder er oder wir alle! Vielleicht überlebt er den Krieg auch!"
    ,,Ich werde das nicht zulassen..."
,,Nur weil es Henriette täte? Denk darüber nach, was er ihr und Hendryk angetan hat! Ich appelliere an deinen gesunden Menschenverstand. Er ist es nicht wert zu leben, für das, was er ihnen antat."
Elynore schwieg. Sie senkte den Kopf, spannte jeden Muskel an, ballte die Hände zu Fäusten und lief davon in den Salon. Auf dem Weg sah sie das Treppenhaus hinauf und erkannte Francis. Sie sah ihn ein letztes Mal eindringlich an, bevor sie ihre Lippen fest aufeinander drückte und die Tür hinter sich schloss. Es war das letzte Mal, dass Francis Elynore zu Augen bekam.

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