4.1 Alinas Not

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Alina brach am Morgengrauen erschöpft zusammen. Ihre Beine zitterten und pochten. Der Wald war so dicht, dass sie nicht mehr wusste, woher sie gekommen oder wohin sie gerade gelaufen war. Und jetzt war Alina so müde, dass es ihr egal war. Sie schloss die Augen und ließ ihren Körper auf dem Waldboden sinken. Ihre Ohren zuckten hin und her. Sie hörte die Eichhörnchen durch die Bäume springen, ein Chor von Vogelrufen, das Rascheln der Nagetiere im Unterholz, das Rauschen ihres Blutes. Alles auf einmal. So klar und so deutlich, dass es sie wahnsinnig machte. Alina legte ihre Ohren an. So schirmte sie wenigstens ein paar der Geräusche ab.

Trotzdem kam keine Ruhe auf. Ihr Körper brannte. Ihre Zunge war schwer und trocken. Und es wurde mit jedem Augenblick schlimmer. Wasser. Sie brauchte dringend Wasser. Also zwang Alina sich wieder aufzustehen und horchte. Inmitten all des Lärms im Wald, hörte sie Plätschern. Sie folgte dem Geräusch und entdeckte bald einen Bach. Alina schlürfte gierig das Wasser in ihren trockenen Mund hinein. Das kühle Nass schaffte es kaum schnell genug zu fließen, so musste Alina den Bach hinauf waten, um mehr zu bekommen.

Je mehr sie trank, desto leichter wurde ihr Körper. Als ihr Durst gestillt war, floss ein warmes Gefühl ihren Bauch entlang. Nachdenklich betrachtete sie ihren langen Körper. In der Ausbildung hatte sie gelernt, dass Drachen mit Hilfe ihres Bauchs flogen, der sich aufblähte und vom dem auch das markante Rauschen der Drachen entstand. Man hatte ihr nur nicht erklärt wie es funktionierte. Ob es einfach nur Luft war oder etwas anderes, das sie fliegen ließ.

Sie blähte ihren Bauch auf, bis es schmerzte. Doch nichts geschah. Sie ließ es sein und huschte weiter durch den Wald, der kein Ende nahm. Die Bäume türmte sich über ihr auf, viel höher als sie es aus Höhental kannte. Nach einer Weile verlor sie den Fokus auf ihrer Umgebung und die Bilder der letzten Stunden schwirrten ihr durch den Kopf.

Der Drache. Der Biss und der Fall. Tessa. Die Meister. Sie war allein. Getrennt von ihrem Bruder. Ihre Beine gaben unter Alina nach. Sie war hier allein, ohne Aiven. Ihr Atem stockte und ein Stich fuhr durch ihre Brust. Ihre Augen brannten wie Feuer, wegen dem Drang zu weinen. Doch es kamen keine Tränen heraus, nur ein leises Winseln.

Warum hatte sie den Drachen allein gejagt? Warum war sie nicht vorsichtiger gewesen? Dann wäre sie vielleicht nicht gebissen worden. Oder sie wären jetzt zusammen hier. Tessa und Aiven wüssten, was jetzt zu tun wäre. Doch wie sollte sie allein überleben? Alina legte sich hin und steckte ihren Kopf unter dem warmen, rauschenden Bauch. Trotz der Wärme zitterte sie am ganzen Leib. Sie blieb liegen, bis die Dämmerung einbrach.

Am nächsten Morgen, trieb ihre schmerzende Kehle Alina wieder auf die Beine. All ihre Sorgen und all ihr Kummer wichen vor dem schrecklichen Durst zurück. Sie schleppte sich durch die lichteren Stellen des Waldes und fand bald einen kleinen See. Erleichtert tauchte sie ihren Kopf in das klare Wasser. Während sie noch trank, hörte sie Menschenstimmen. Sie hielt inne. Traute sich nicht auch nur einen Muskel zu bewegen. Die Stimmen kamen nicht näher. Sie hörte auch keine Schritte im Unterholz. Alina folgte dem Klang der Stimmen durch das Dickicht. Durch das Wasser, fühlte sich ihr Körper viel leichter an, sodass ihre Schritte fast lautlos waren.

Es dauerte, bis sie endlich die Männergruppe gefunden hatte. Fünf Jäger saßen auf gefällten Baumstämmen, redeten miteinander und aßen Brot und Äpfel. Nicht weit von ihnen hingen Fasane und Hasen zum Ausbluten an den Ästen von einer Eiche. Speichel tropfte aus ihrem Maulwinkel heraus. Wann hatte sie das letzte Mal gegessen?

Alina legte sich hin und beobachtete die Männer. Wartete, bis sie endlich ihre Waffen und ihr Jagdgut zusammenpackten. Einige der Äpfel ließen sie liegen, auch etwas Brot hatten sie vergessen mitzunehmen. Sie räumten das Lager und verschwanden hinter den Baumstämmen. Als sie nur noch ihre Schritte in der Ferne hörte, schlich Alina sich an die Essensreste heran. Brot und Äpfel verschwanden mit einem Schluck. Es war zu wenig. Viel zu wenig. Sie sah sich nach mehr Essen um. Erst jetzt entdeckte sie den Bogen, der gegen einen Baumstamm gelehnt war. Alina wollte sich gerade zurückziehen, da hörte sie auch schon ein Knacken im Unterholz.

»Was zum ...«, einer der Jäger war zurückgekehrt. Beide starrten sich bewegungslos an. Als die Überraschung von dem Gesicht des Jägers verflog, zog er einen Dolch heraus und lief auf sie zu.
»Verfluchtes Biest!«

Alina machte einen Satz über ihn hinweg und krachte gegen einen Baumstamm. Sie öffnete ihr Maul. Wollte ihm sagen, dass sie kein Biest war. Doch es war unmöglich. Es kam nur ein klägliches Japsen aus ihr heraus. Der Jäger hatte sie fast eingeholt. Alina sprang auf ihre Füße und raste davon. Sie kam kaum voran. Zu viele Bäume standen ihr im Weg. Von hinten kamen laute, wütende Rufe. Die anderen Männern hatten sich der Jagd angeschlossen.

Endlich lichteten sich die Bäume. Ihre Beine streckten sich und Alina galoppierte aus dem Wald heraus, auf eine Wiese zu. Sie sprang aufs offene Gras und kam schlitternd zum Stehen, als sie den breiten Weg am Rand der Wiese bemerkte. Nach links führte er durch die Tore einer Stadt, aus der gerade eine Gruppe von Soldaten heraus geritten kam. Obwohl sie noch weit entfernt war, bemerkten die Pferde Alina und wieherten panisch. Die Blicke der fünf Soldaten landeten auf ihr und hinter sich hörte sie die schnellen Schritte der Männer, die sie gerade einholten.

Ihr Körper erstarrte vor Panik. Die Soldaten gaben den Pferden die Sporen. Alina kam wieder zu sich und lief quer durch die Straße auf ein großes Weizenfeld zu.
Ein Schmerz stach durch ihr linkes Hinterbein. Alina stolperte und fiel auf die Schnauze. Fünf Pfeile steckten in ihrem Schenkel fest. Um sie herum breitete sich ein dunkelroter Hof aus.
»Tötet das Biest! Schnell!«, rief ein Soldat.

Alina zog sich gerade an den Vorderbeinen hoch, da schoss ein zweiter Schmerz durch ihren Körper. Ein lautes Japsen kam aus ihrer Kehle.  Ein weißes Schwert steckte in ihrem Schwanz. Sie wandte sich, doch jede Bewegung sendete unzählige Schmerzen durch ihren Körper. Ein Seil zog sich um ihre rechte Vorderpfote. Die Soldaten und Pferde sammelten sich um sie und die Männer brüllten einander Befehle zu.

Völlig überwältigt blieb Alina liegen, während die Männer immer näher kamen. Als das Seil gegen ihre Bissverletzung drückte, brauste ein gleißender Hitzestrom durch ihren Körper. Aus ihrer Kehle kam ein Brüllen, das all ihre Glieder zum Beben brachte. Ihre Gedanken verschwanden, während die wilde Hitze sich weiter in Alina ausbreitete, sie wie eine fremde Hand packte und ihren Körper steuerte.

Alinas Maul schnappte sich das Seil und zog den Soldaten, der es hielt vom Pferd. Mit einem heftigen Schwanzhieb warf sie drei andere um. Die Pferde gerieten in Panik und galoppierten davon. Alina sprang mit geöffneten Maul auf den gefallenen Soldaten, der immer noch das Seil hielt. Ihre Zähne schnappten zu. Etwas Warmes floss über ihre Zunge. Es krachte laut. Mit einem heftigen Ruck riss sie dem Soldaten den Kopf ab.

Blankes Entsetzten flammte in einer Ecke ihres Kopfes auf. Doch sofort überschlug sich die Hitze in Alina und die Wut übernahm wieder die Gewalt. Knurrend schlug sie mit ihrem Schwanz um sich, um die restlichen Soldaten loszuwerden. Aus der Stadt kamen weitere Soldaten angeritten, mit gespannten Bögen. Unzählige Pfeile schossen auf sie zu. Ein weiteres Schwert bohrte sich in ihre Schulter. Alina brüllte, währenddessen nahm die Hitze in ihrem Körper zu und floss entlang ihrer ganzen Unterseite. Sie bückte sich. Spannte ihre Beinmuskeln an. Dann sprang Alina hoch und flog mit schlängelnden Bewegungen davon.

Elyons Fluch | Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt