15.2 Alinas Dämmerung

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»Lenius? Wo fliegst du hin?«, rief Alina, als er das Festland hinter sich ließ und über dem aufgewühlten Meer dahinschoss. Mit klopfendem Herzen starrte sie das wilde Wasser an. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Tosende, schäumende Wellen bäumten sich auf. Das laute Rauschen wurde nur von dem pfeifendem Wind übertroffen, der so stark an Alinas Haaren zerrte, als wollte er sie ausreißen.

»Zu der Insel! Wir müssen Elyon retten!«, rief Lenius.
»Was ist mit Gilwa? Wolltest du nicht fliehen?«
Er antwortete nicht, sondern flog weiter über das tosende Wasser, weg von dem Festland. Alina war erleichtert, ihn an ihrer Seite zu haben. Doch sie machte sich gleichzeitig Sorgen, wie ein Treffen zwischen ihm und Demian ausarten würde. Falls ihr Cousin Lenius tatsächlich verletzt hatte.

Am Horizont tauchte ein spitzer Berg auf. Dunst verbarg zunächst den Rest der Insel, doch bald sah sie, wie hohe Wellen gegen die Felsen des Steilufers schlugen, auf dem der Berg thronte.

»Siehst du das Schiff? Das gehört dem König.«
Das zweimastige Schiff wogte auf den wütenden Meereswellen. Zunächst verdeckte das Wasser die Hälfte des Schiffskörpers, doch dann hob es sich kurz über die Wellen und Alina konnte das Wappen mit dem fliegenden Fisch am Rumpf erkennen. Das Deck war leer. So wie der lange Steg neben dem Schiff, dass immer wieder von den brausenden Wellen überschwemmt wurde.

Lenius flog direkt auf den Fuß des Bergs zu, wo die Wellen sie nicht erreichten. Erste Regentropfen fielen vom Himmel herab und färbten den Felsen unter ihren Füßen dunkelbraun.

»Da vorne!«, brüllte Lenius und stemmte sich gegen den Wind. Er richtete seinen Kopf auf eine Höhle zu, die nicht weit von ihnen im Gebirge klaffte.

Alina bückte sich und verbarg ihr Gesicht in Lenius' weißes Fell, da die Regentropfen direkt in ihre Augen tropften, dass sie ihre Lider nicht offen halten konnten. Währenddessen, kämpfte Lenius sich durch den starken Wind auf den Höhleneingang zu.

»Du musst absteigen!«, rief er, als er vor der Höhle stand. Der Höhleneingang war gerade weit genug, damit Lenius sich hindurchzwängen konnte. Alina sprang von seinem Nacken ab und lief in die Höhle hinein. Endlich geschützt vor dem Regen, wischte sie mit ihrem feuchten Hemdsärmel das Regenwasser von ihren Augen und Brauen ab.

Als Lenius sich durch den Eingang zwängte, schirmte er fast sämtliches Licht mit seinem riesigen Körper ab. Alina konnte gerade noch sehen, wie sich ein langer Gang vor ihnen erstreckte.
Vorsichtig stieg Lenius über sie hinweg. Er streckte seine Nase in die Dunkelheit und schnupperte. Schaudernd zog er den Kopf zurück. »Das riecht wie der Fluch, nur noch saurer und schärfer. Meine Augen brennen jetzt schon.«

Jetzt roch Alina es auch. Angewidert legte sie einen nassen Ärmel über ihre Nase. Doch der Duft des Regenwassers verflog schnell und der widerliche Gestank drang in ihre Nasenhöhlen ein. Nur mit Mühe konnte Alina ihr Würgen zurückhalten.

»Halt dich an meinem Fell fest«, keuchte Lenius. Dann nieste er mehrmals.
Alina griff nach dem langen Fell an seinem Bauch und zog leicht daran. Sofort setzte Lenius sich in Bewegung und tauchte in den dunklen Gang hinein. Je weiter sie liefen, desto schlimmer wurde der Gestank. Alinas Augen tränten. Auch Lenius kämpfte schnaufend mit dem Gestank.

»Ist das ein Fluch?«, fragte sie atemlos.
»Wenn das einer ist, will ich nicht wissen, wer ihn trägt.«
Sie kämpften sich weiter vor. Ein entferntes Brüllen hallte durch den Höhlengang. Lenius hielt an. Ein Schauer fuhr über Alinas feuchte Arme und sendete einen kurzen Schmerz, wegen der Kälte, über ihre Haut. Dann schallte ihnen ein wütender Schrei entgegen, der fast wie das Brüllen eines Tieres klang. Sie kannte die Stimme. Elyon.

»Halt dich an meiner Seite fest!«, rief Lenius.
Alina stützte sich am Boden ab, schwang sich hoch, krallte sich an dem nassen Fell fest und drückte ihre Beine fest gegen den langen Drachenkörper, gerade rechtzeitig, bevor Lenius durch den langen Gang lief.

Elyons Fluch | Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt