4. lítost

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lítost: ein Zustand von Qual und Pein, der durch einen plötzlichen Blick auf sein eigenes Elend hervorgerufen wird; es ist ein Gefühl von Bedauern oder Reue, weil man etwas falsch gemacht hat

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Samstag, März

Seine Mutter fuhr ihn am Samstag zum Hause der Moriartys, da bereits die ganze Woche Gewitterstürme über England hinwegzogen. Eigentlich hatte Sebastian sich weigern wollen, da seine Mutter, obwohl sie am Wochenende frei hatte, als Unidozentin viel zu tun hatte. Doch Dorothea Moran konnte ebenso wie ihr Sohn sehr stur sein.

Also saß Sebastian nun auf dem Beifahrersitz und beobachtete, wie die Regentropfen über die Fensterscheibe liefen, während alles außerhalb des Wagens zu einer verschwommenen Masse aus Grau und Ampelrot wurde.

„Ist alles in Ordnung, Schatz?", fragte seine Mutter irgendwann und Sebastians Mundwinkel hoben sich beinahe automatisch, als er die Sorge in ihrer Stimme hörte. Ein erlernter Mechanismus, damit sie aufhörte, sich zu sorgen.

„Ja, ich hab nur nachgedacht."

Das hätte er nicht sagen sollen, denn nun blickte seine Mutter aus dem Augenwinkel zu ihm herüber und wirkte noch besorgter. Sebastian tat so, als würde er es nicht bemerken.

„Bist du dir sicher? Du wirkst schon seit gestern so betrübt."

Die Ampel, über die sie fuhren, wurde hinter ihnen rot und Sebastian betrachtete ihr Glimmen im Rückspiegel, bis sie außer Sicht war. „Ja, alles gut. Hab nur nicht besonders gut geschlafen."

Das war gelogen und das wussten sowohl er als auch seine Mutter. Nun ja, der Teil mit dem nicht gut geschlafen stimmte. Aber dass sein Lehrer um ein Gespräch mit seiner Mutter gebeten hatte, weil Sebastians Noten sich so verschlechtert hatten und dass er das Gespräch mit ihrer Bank mitbekommen hatte, verschwieg Sebastian ihr. Genauso wie den Umstand, dass einer seiner "Schützlinge" ihm das Leben schwer machte, gleichzeitig aber verlangte, dass Sebastian ihn in Ruhe ließ und dass er Sebastian als Gutmenschen, der immerzu lächelte, bezeichnet hatte und damit nicht falscher liegen könnte, weil das Lächeln immer schwieriger für ihn wurde. Vor allem, weil Jim Erinnerungen in ihm geweckt hatte, die ihn daran zweifeln ließen, ob er wirklich ein guter Mensch war oder einfach nur selbstsüchtig. Immerhin musste er seiner Mutter spätestens, wenn er sein Zeugnis bekam, sagen, wie es zurzeit in der Schule lief (obwohl das Zeugnis allein schon Bände sprechen würde) und eigentlich könnte er sie jetzt schon darauf einstellen. Stattdessen jedoch lief er jeden Morgen zum Briefkasten, um sicher zu gehen, dass seine Schule keinen Brief gesendet hatte, fing jede E-Mail damit ab, dass er seiner Schule seine eigene E-Mail-Adresse angegeben hatte und erfand immer neue Ausreden, wieso seine Mutter nicht zum Elternabend kommen konnte. Und das alles nur, weil er Angst hatte, sie zu enttäuschen. Gott, er war so selbstsüchtig.

„Du hast wieder diesen Blick drauf", bemerkte seine Mutter und Sebastian löste seine Schläfe von der Scheibe und setzte sich gerade auf.

„Welchen Blick?"

„Als würdest du den Sinn des Lebens suchen und es würde dir nicht gefallen, worauf deine Suche hinausläuft."

„Es gibt keinen Sinn im Leben", sagte Sebastian und eigentlich war es als Scherz gedacht, aber irgendwie schien dieser seine Wirkung nicht erzielt zu haben, weil seine Mutter die Augenbrauen zusammenzog und sich auf die Unterlippe biss, als wüsste sie nicht, was sie noch sagen sollte, wüsste auch nicht, wie sie dem widersprechen sollte.

Seine Mutter seufzte und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema, leider auch kein angenehmes für Sebastian: „Ich habe letztens mit deinem Bruder telefoniert. Er will irgendwann mal vorbeikommen. Wäre das okay für dich?"

m e t a n o i aWo Geschichten leben. Entdecke jetzt