Sabine hatte schon lange nicht mehr das Gefühl, nach Hause zu kommen. Früher war es das mal gewesen - ein warmer Ort, der Sicherheit und Geborgenheit vermittelte.
Daheim wie heimelig.
Doch inzwischen hatte dieses Gebäude eher etwas von einem hundertfünfzig Quadratmeter großen Schrein.
Beklemmung breitete sich in ihr aus, als sie ihren Trenchcoat neben den Wollmantel ihrer Mutter hängte und ihre Stiefel neben deren klobige, orthopädische Schnürschuhe stellte.
Die abgestandene Luft verstärkte ihr Unbehagen. Sowohl das seelische als auch das körperliche. Der Mief hier katapultierte ihre Kopfschmerzen auf ein ganz neues Level.
„Mensch, Papa! Wann hast du denn zum letzten Mal gelüftet?“
Sie rannte ins Wohnzimmer und riss das Fenster auf. Dabei fiel ihr Blick auf das Nackenhörnchen und die Patchworkdecke auf dem Sofa. Und auf die Pantoffeln daneben. Es sah so aus, als hätte sich ihre Mutter gerade zu einem kleinen Nickerchen entschlossen. Nur lag da niemand auf der Couch. Zumindest niemand, den Sabine hätte sehen können.
Als Hannes kurz darauf vier statt drei Kaffeegedecke auf den Esstisch stellte, hatte Sabine sich bereits wieder an die imaginäre Gegenwart ihrer Mutter gewöhnt. Wohlweislich setzte sie nicht auf deren Stammplatz auf der Eckbank. Ihr Vater beäugte sie kritisch, als sie sich als Vorspeise eine weitere Ibuprofen einverleibte.
„Warst du schon beim Arzt wegen deiner Kopfschmerzen?“, fragte er sie.
„Ja“, entgegnete Sabine kurz angebunden. „Ist nichts Schlimmes. Nur eine Nebenwirkung eines anderen Medikaments. Das gibt sich wieder.“
„Hm, deine Mutter versucht gerade, mir etwas zu sagen ...“, setzte Hannes an, doch Sabine unterbrach ihn unwirsch: „So sehr ich Mamas Meinung immer geschätzt habe – in dem Fall vertraue ich lieber dem Spezialisten. Nix für ungut.“
Auch wenn sie froh war, dass ihr Vater nicht wegen der anderen Präparate nachgehakt hatte, machte es sie nervös, wenn er so tat, als würde Maria nicht nur mit ihnen am Tisch sitzen, sondern zu allem Überfluss auch noch an ihrer Unterhaltung teilnehmen. Vielleicht meldete sich da ihr schlechtes Gewissen. Jedenfalls wurde ihr bei dem Gedanken daran, dass es für ihren Vater das Normalste der Welt zu sein schien, mit seiner toten Frau zu sprechen, noch mulmiger in der Magengrube als ohnehin schon. Zumal Hannes sehr zurückgezogen lebte. Wahrscheinlich war Marias Geist sogar sein Hauptansprechpartner. Und dieser Umstand appellierte an Sabines Verantwortungsgefühl. Sie wusste wirklich nicht, ob es noch vertretbar war, dass Hannes in dieser Verfassung weiterhin allein lebte. Andererseits schien er bis auf das Lüftungs- und ein minimales Staubproblem gut zurechtzukommen. Und als sie ihn beim letzten Mal vorsichtig gefragt hatte, ob er sich auch vorstellen könnte, in ihre Nähe zu ziehen, hatte er sie total weggeblockt.
Gut, ihre eigene Antwort eben war nicht weniger abweisend gewesen. Sie war halt ihres Vaters Tochter. Der wiederum warf nun der leeren Bankecke einen vielsagenden Blick zu und Max grinste mit gesenktem Kopf in sein Smartphone hinein. Oft genug hatte Sabine ihm gesagt, dass es unhöflich war, am Esstisch mit dem Handy zu spielen, aber das Ding schien inzwischen regelrecht mit ihm verwachsen zu sein und die Stimmung wäre ohne dieses gewohnte Alltagsbild – Max am Handy – wahrscheinlich noch beklemmender.
Und dazu noch ihr dröhnender Schädel. Heute war es wirklich besonders schlimm. Nachdem sie gemeinsam den Tisch abgedeckt und die Spülmaschine eingeräumt hatten, entschuldigte sich Sabine und zog sich in ihr altes Kinderzimmer im ersten Stock zurück, das ebenfalls noch so aussah wie vor vierzig Jahren. Sie würde versuchen, eine halbe Stunde zu schlafen. In der Hoffnung, dass ihr Kopf danach etwas Ruhe gab und sie gewappnet für die Heimfahrt wäre.
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Wenn die Toten reden
ParanormalHier ist drin, was draufsteht: Kleine, gemeine Geistergeschichten. Wobei ich das "kleine" wohl jetzt schon relativieren muss. Bereits meine erste Gruselmär besteht darauf, sich über mindestens drei Teile erstrecken zu dürfen. Im Vergleich zu dem, wa...