Inspiration: Prélude No.2 in a-Moll von Frédèric Chopin
Stimmung: Beklemmend, düster, gespenstisch, depressiv, morbideWährend Georgina ihre Kleidung in dem Monstrum von Schrank verstaute, der so hoch und tief war, dass sich sogar ein Erwachsener problemlos darin verstecken konnte, horchte sie angespannt. Doch in der Nachbarwohnung war es totenstill. Dabei wäre Georgina inzwischen sogar für kleine Alltagsgeräusche wie Topfgeklapper, Toilettenspülung oder ein Niesen dankbar gewesen. Auf eine weitere musikalische Darbietung hoffte sie schon gar nicht mehr.
Jene Wohnung schien außer der ihren die einzige bewohnte auf dieser Etage zu sein. Wobei es schon seltsam anmutete, dass es, genau wie bei den leerstehenden Räumlichkeiten, kein Namensschild an der Tür gab und keine Fußmatte davor. Tatsächlich waren die Klavierklänge direkt nach der Besichtigung das einzige Indiz dafür gewesen, dass im zweiten Stock außer Georgina noch ein weiterer Mensch lebte.
Am Ende hatte sie sich die Musik nur eingebildet. Aber das wollte sie nicht glauben. Die Vorstellung, dass sie hier oben mutterseelenallein hauste, war einfach zu beängstigend. Absurderweise war aber ja genau das ihr Hauptantrieb gewesen: dass sie endlich von ihrer Mutter wegkam. Und das Alleinsein hatte sie noch nie geschreckt. Doch die bedrückende Stimmung hier, die sich beim letzten Mal noch hinter der verspielten Sonne und einer resoluten Maklerin verborgen hatte, machte Georgina doch sehr zu schaffen.
Gerade jetzt, wo es dunkel wurde.
Sogar ihr Vater, der zu Hause lediglich körperlich anwesend war und das auch nur sporadisch, wäre ihr jetzt willkommen gewesen. Er war wenigstens ehrlich in seiner Gleichgültigkeit. Während ihre Mutter ihr Desinteresse an Georginas Person seit dem Unfall damit tarnte, dass sie die Oberglucke spielte.
Damals wie heute ging es ihr nicht um Georginas Bedürfnisse und schon gleich gar nicht um Liebe. Im Universum ihrer Mutter existierte nur eine Person, die wirklich zählte. Und das war sie selbst. Ihre Tochter war nicht mehr als ein Prestigeobjekt, das Mama so fanatisch auf Hochglanz polierte wie andere ihre Autos. Schon der kleinste Kratzer im Lack war ein Drama und gleichbedeutend mit einem Riss in der perfekten mütterlichen Fassade. Ein altes Lied, das Georgina sicher mit zahlreichen anderen Leidensgenossinnen im Chor singen könnte. Zwar war sie alt genug, um zu wissen, dass Narzissten eigentlich zutiefst unsichere und bedauernswerte Geschöpfe waren, aber das änderte nichts daran, dass Georgina sich diesem destruktiven Einfluss entziehen musste. Und in die Stadt zu ziehen war sicher vernünftiger, als weiterhin waghalsig auf Brückengeländern zu balancieren oder im Fluss ausgerechnet dort ins Wasser zu gehen, wo die gefährlichen Strömungen lauerten.
In diesem Augenblick setzte die Musik ein, und zwar so abrupt, dass Georgina der Kleiderbügel aus der Hand fiel und polternd auf dem Schrankboden landete. Sie wusste nicht, wie das Stück hieß, wohl aber, dass es sich erneut und unverkennbar um eine von Chopins Kompositionen handelte. Doch im Gegensatz zu der gefälligen, leichten und beschwingten Melodie vom letzten Mal waren es diesmal düstere und beklemmende Töne, die sich den Weg durch die Wand zu Georgina bahnten und sich bleiern um ihr Herz legten. Wie gelähmt hielt sie inne. Dieses Klavierspiel war weder beruhigend noch tröstend. Im Gegenteil - es war viel verstörender als die Stille zuvor. Dank der Virtuosität des Spielers – oder der Spielerin? - konnte Georgina den dunklen Klängen eine gewisse Schönheit nicht absprechen. Eine kranke und fiebrige Schönheit, welche die längst abgestorbenen Nervenzellen in ihrem zertrümmerten Bein wieder zum Leben erweckten.
So intensiv spürte Georgina den Phantomschmerz, der seinen Namen gerade Lügen strafte, dass sie wimmernd Richtung Bett wankte. Während die Musik im Nebenzimmer anschwoll und scheinbar direkt auf einen erschreckenden Höhe- oder vielleicht eher Tiefpunkt zusteuerte, hatte Georgina das Gefühl, auf heißen Klingen zu laufen. Zudem schien die Musik sie zu drängen und zu schubsen. Sie erkannte darin jene Angst und Sehnsucht, die sie immer und immer wieder zum Spiel mit dem Tod aufgefordert hatten. Ihr Bein wollte nicht zum Bett. Es wollte zum Fenster, sich über den Sims schwingen und hinunter springen.
Doch da war auch noch etwas anderes in der Musik. Etwas Warmes, das darauf bedacht war, sie zu schützen und im Leben zu halten. Vielleicht lag es an der Tonart, die diesem Stück zugrunde lag - am sanften und weichen a-Moll. Oder an der Interpretation des Pianisten, der sich scheinbar selbst nicht entscheiden konnte, ob er den Tod bekämpfen sollte oder sich von ihm locken lassen wollte.
Wer war das dort, in der anderen Wohnung? Freund oder Feind?
Obwohl Georginas verkrüppelte Gliedmaße nach wie vor gen Fenster strebte, konnte sich ihr restlicher Körper durchsetzen. Das Mädchen umklammerte den Bettpfosten wie ein Kapitän den Mast seines sinkenden Schiffs. Sie war noch dabei, sich in eine sitzende Position zu zwingen, als sie feststellte, dass die schaurige Musik und damit jener dunkle, tödliche Sog langsam verebbten.
Erleichtert ließ sich Georgina auf die Bettkante plumpsen.
Um gleich darauf wieder verängstigt hochzufahren. Das Kratzen, dort am äußersten Fenster über dem Sekretär, klang noch grausiger als die Musik eben. Zumindest ließ es jegliche akustische Ästhetik vermissen. Mit klopfendem Herzen drehte Georgina ihren Kopf in Richtung Geräuschquelle und erwartete schon fast, dort bleiche Hände zu sehen, die sich von außen an die Scheibe pressten und mit langen und gebogenen Fingernägeln über das Glas schabten.
Stattdessen blickte sie in zwei leuchtend gelbe Augen. Der Schock rammte sich eispickelgleich in Georginas Brust.
Doch sie schrie nicht. Niemals. Selbst damals nicht, als der Kleintransporter ihr Bein im Rückwärtsgang überrollt hatte. Zumindest hatten das ihre Eltern behauptet. Sie war zu klein gewesen, um sich daran erinnern zu können.
„Oh Gott", flüsterte sie also nur und schlug sich eine Hand vor den Mund.
„Miau", antwortete es von draußen und Georginas Angst wich Verwunderung.
„Eine Katze?"
Ungläubig näherte sie sich dem Fenster. Und nun konnte sie die kleinen Tatzen erkennen, die ungeduldig an der Scheibe entlangfuhren. Kaum hatte Georgina die Fensterflügel geöffnet, sprang das schwarze Kätzchen schon auf den Sekretär.
„Wie bist du denn hier raufgekommen?", fragte sie das Tier, das bereits zutraulich Georginas aufgestützte Arme umschmeichelte. Sie hatte sich über den Tisch beugen müssen, um an das Fenster heranzureichen. Der Katzenschwanz kitzelte sie am Kinn und sie musste niesen. Lachend hob sie die Katze von der Tischplatte und setzte sie auf den Boden. Als sie das Fenster wieder schloss, erhaschte sie einen Blick auf die Feuerleiter, die direkt neben dem Sims entlangführte.
„Also kannst du doch nicht fliegen", grinste sie und streichelte das seidige, tiefschwarze Katzenfell. Doch als das wohlige Schnurren plötzlich in ein drohendes Knurren überging, zog Georgina ihre Hand rasch wieder zurück. Sie folgte dem starren Blick der Katze und zum wiederholten Male an diesem Abend lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.
Dabei wirkte der warme Lichterschein, der durch den schmalen Spalt der angelehnten Tür drang, eigentlich sehr einladend. Nur, dass da vorher gar keine Tür gewesen war. Nicht in dieser Wand, die ihre und die Nachbarwohnung voneinander trennten.
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Wenn die Toten reden
ParanormalHier ist drin, was draufsteht: Kleine, gemeine Geistergeschichten. Wobei ich das "kleine" wohl jetzt schon relativieren muss. Bereits meine erste Gruselmär besteht darauf, sich über mindestens drei Teile erstrecken zu dürfen. Im Vergleich zu dem, wa...