Inspiration: Prélude No. 1 in C-Dur von Frédèric Chopin
Stimmungen: Aufgeregt, fröhlich, hell, erwartungsvoll, fragend, im Aufbruch, dynamisch, beschwingt, schönGeorgina war, als hätte sie nicht nur die Türschwelle, sondern auch eine Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit überschritten. Obgleich die „guten" alten Zeiten sicher nicht viel mit den romantisierten Vorstellungen gemein hatten, als die sie in den Köpfen der Menschen weiterexistierten, konnte sich das Mädchen des Zaubers dieses hohen, lichtdurchfluteten Raums nicht erwehren, kaum dass sie ihn betreten hatte.
Die Wohnung war wie angekündigt möbliert und die Einrichtung schien zum größten Teil aus dem vorletzten Jahrhundert zu stammen. Allerdings kannte sich Georgina mit Antiquitäten nicht wirklich aus. Doch wenn sie nicht alles täuschte, waren viele der Möbel aus Akazie gefertigt. Sie fühlte sich an das Haus ihres Großvaters erinnert. Er hatte für die dunkle, warme und lebendige Optik und die Langlebigkeit dieses Holzes eine besondere Vorliebe gehabt.
Beinahe ehrfürchtig folgte sie der Maklerin und setzte dabei so behutsam wie möglich einen Fuß vor den anderen. Es schmerzte sie fast körperlich, als sie sah, wie sich die Pfennigabsätze von Frau Winters Pumps in den edlen Parkettboden bohrten. Zum Glück war die Dame ein laufender Meter und überdies ein Fliegengewicht. Vermutlich würde sich der Schaden also in Grenzen halten.
Die Wolken zogen schnell an diesem heiteren, aber windigen Novembertag. Zusammen mit der erstaunlich kräftigen Herbstsonne verwandelten sie das Zimmer hinter der großzügigen Fensterfront in eine Bühne, auf der sich Licht und Schatten ein beeindruckendes Duell lieferten. So lebhaft gestaltete sich dieses Spiel, dass Georgina das Gefühl hatte, als wären sie und Frau Winter nicht die einzigen Menschen im Raum. Aus den Augenwinkeln meinte sie, ein kleines Mädchen gesehen zu haben, das mit sich bauschenden Röcken an ihr vorbeigeeilt war. Und dort, in der Ecke neben dem Wandschrank, lehnte da nicht ein Mann mit Hut? In lässiger Dandy-Manier?
„Wie gesagt: Die Wohnung kostet 500 Euro warm. Strom und Telefon gehen allerdings extra." Die schrille Stimme der Maklerin glitt so mühelos durch Georginas fragiles Tagtraumgespinst wie ein frisch gewetztes Messer durch einen Laib Brot.
Wäre Georgina nicht so schüchtern gewesen, hätte sie gefragt, ob hier jemand gestorben war. Anders ließ sich diese nahezu unverschämt günstige Miete kaum erklären. In München konnte man für diesen Preis normalerweise nicht mal ein kleines Kellerverlies anmieten. Doch ganz gleich, was die Hintergründe für dieses spektakuläre Angebot waren: Georgina liebte die Wohnung jetzt schon. Und auch die starke Präsenz vergangener Jahrhunderte, die sie fast mit Händen greifen konnte, machte ihr keine Angst.
„Ich nehme sie", flüsterte sie und strich sich eine kupferrote Strähne aus der Stirn. Sie musste sich erst an diese moderne Frisur gewöhnen und daran, dass ihr Haar nur noch bis zu den Schultern und nicht mehr bis zur Taille reichte. Es war ganz anders, als ihre Mutter es ihr prophezeit hatte: Georgina fühlte sich nicht befreit. Sie fühlte sich eher so, als wäre ein Teil ihrer Selbst abgeschnitten worden. Doch es waren nur Haare, nicht wahr? Die würden auch wieder wachsen. Dennoch ärgerte sich Georgina darüber, dass sie mal wieder eingeknickt war; dass sie sich zu diesem Umstyling hatte überreden lassen, statt endlich einmal „nein" zu sagen.
Aber vielleicht war diese Aktion auch der notwendige Tropfen gewesen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Als Georgina die unscheinbare Anzeige im lokalen Wochenblatt entdeckt hatte, konnte sie auch kein noch so perfider Manipulationsversuch seitens ihrer Mutter mehr davon abhalten, zusammen mit den überschießenden Wassermassen raus aus dem Bottich und ab in die Freiheit zu schwimmen. Auch wenn dies bedeutete, dass sie ihr Studium fürs Erste an den Nagel hängen und sich stattdessen ihre Unabhängigkeit hart würde erarbeiten müssen. Sie war einundzwanzig. Zu alt, um sich weiterhin dem Diktat ihrer Mutter zu beugen, und jung genug, um sich auszuprobieren, indem sie auch mal abseits der vorgegebenen Wege entlang spazierte.
„Oh, das freut mich sehr!", rief Frau Winter und klatschte enthusiastisch in die Hände, bevor sie mit fliegenden Fingern in ihrer überdimensionierten Handtasche kramte. „Ich habe den Mietvertrag dabei. Wir können die Formalien also gleich erledigen."
„Darf ich mir den Vertrag vielleicht erst noch in Ruhe durchlesen?", fragte Georgina zaghaft und musterte die Papierbögen, die aussahen, als hätte sie jemand von Hand beschriftet - aber wahrscheinlich handelte es sich nur um eine dieser besonders ausgefallenen Computerschriftarten - kritisch.
„Ach, Kindchen, da stehen nur die üblichen Standardfloskeln drin. Ich werde das jetzt schnell mit Ihnen durchgehen. Dann können Sie sich das umständliche Herumgeschicke ersparen." Sie befeuchtete ihren Zeigefinger mit der Zunge, tunlichst darauf bedacht, dabei ihr Lippenrot nicht abzutragen und blätterte direkt auf die zweite Seite.
„Die wichtigsten Daten finden Sie hier", erklärte sie hastig. „Die Miete ist immer zu Monatsanfang fällig. Die Kündigungsfrist beträgt drei Monate zum Quartalsende, die Kaution entfällt." Noch so eine unerklärliche Besonderheit.
„Der Vermieter nagt nicht am Hungertuch." Frau Winter hatte Georginas skeptischen Gesichtsausdruck wohl richtig gedeutet. „Ihm geht es vor allem darum, dass die Räume bewohnt werden."
Aus unerfindlichen Gründen spürte Georgina, wie ihr ein leiser Schauer über den Rücken lief.
„Hm, ich glaube, ich möchte doch noch eine Nacht darüber schlafen", ließ sie den Teil ihres Bauchgefühls zu Wort kommen, der sich noch nicht von dem märchenhaften Ambiente dieser zauberhaften Räumlichkeiten hatte einlullen lassen.
„Weil Ihnen die Wohnung zu billig ist?", gackerte Frau Winter, doch ihr Lachen klang künstlich und ihre Mimik war sichtlich angespannt. „Tut mir leid, aber da ich noch einige andere potentielle Mieter an der Hand habe, kann ich nicht garantieren, dass das Appartement morgen noch zu haben ist."
„Hatten Sie nicht gesagt, ich sei die einzige Interessentin?" Georgina war so überrascht, dass sie kurzzeitig sogar ihre Schüchternheit vergaß.
Für den Bruchteil einer Sekunde entgleisten die Gesichtszüge der Maklerin. Aber im gleichen Moment malte die Sonne einen besonders schönen goldenen Kringel auf die blank polierte Platte des antiken Sekretärs am äußersten Fenster. Letzterer lud sie förmlich dazu ein, mit Notizbüchern und Schreibutensilien befüllt zu werden. Georgina sah sich bereits dort sitzen - wie sie abends ihren Gedanken nachhing, den ein oder anderen davon einfing und in Form eines kleinen Gedichts niederschrieb.
„Ja, das war auch so. Aber nach unserem Telefonat haben sich dann doch noch ein paar Leute mehr gemeldet", antwortete Frau Winter nun. „Und ich bin nun mal dazu angehalten, die Wohnung so schnell wie möglich neu zu vermieten."
Auffordernd streckte sie Georgina einen Kugelschreiber entgegen und diese ergriff ihn zögerlich. Angesichts der Wohnungsknappheit und der eigentlich horrenden Mietpreise schien es äußerst unwahrscheinlich, dass sie binnen zweier Wochen eine andere Unterkunft auftun würde und in irgendeiner Jugendherberge wollte sie auch nicht absteigen. Geschweige denn jeden Tag vier Stunden im Zug verbringen. Am fünfzehnten November würde sie als Erzieherin in einer Schwabinger Kindertagesstätte anfangen. Obwohl sie bisher nur drei Semester Sozialpädogik studiert und keinerlei einschlägige Ausbildung vorzuweisen hatte. Doch Kindergärtnerinnen wurden so händeringend gesucht, dass auch eine Quereinsteigerin ohne Referenzen willkommen war.
Mit mehr Schwung, als sie sich zugetraut hätte, setzte Georgina ihre Unterschrift neben den roten Haftstreifen, der das dafür vorgesehene Feld markierte. Genauso rot wie Frau Winters Lippenstift.
Als sie zurück in den Hausflur traten, drang aus der Nachbarwohnung leise Musik zu ihnen hinüber. Jemand spielte Klavier. Virtuos sogar.
„Chopin", murmelte Georgina wehmütig. In ihrem rechten, kaputten Bein zuckte es.
„Wie bitte?" Frau Winter drehte sich fragend zu ihr um.
***
Im Gegensatz zu der vorherhergehenden Story gibt es zu dieser neuen Geistergeschichte hier noch keinen fertigen Plot. Nur ein kleines Hirngespinst, das sich an dem Gerüst von Chopins 24 Präludien entlangranken wird. Ich bin also selbst gespannt, was in den folgenden Kapiteln noch so alles geschieht. Da ich jedem Präludium ein Kapitel widmen möchte, steht zumindest fest, dass diese Erzählung wohl eher den Umfang einer Novelle annehmen wird. Wenngleich die jeweilige Kapitellänge voraussichtlich stark variiert. Ich glaube, ich muss den Klappentext dieses Büchleins wohl doch nochmal überarbeiten.
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Wenn die Toten reden
ParanormalHier ist drin, was draufsteht: Kleine, gemeine Geistergeschichten. Wobei ich das "kleine" wohl jetzt schon relativieren muss. Bereits meine erste Gruselmär besteht darauf, sich über mindestens drei Teile erstrecken zu dürfen. Im Vergleich zu dem, wa...