Kapitel 4

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~Sabah~

Die Sonne steigt langsam empor und taucht den Himmel in einzelne kleine Partien, mit ihren Farben. Von Gelb zu Orange, hinzu Rosa, Lila und letztendlich Blau. Es ist wunderschön mit anzusehen. Am liebsten würde ich die Zeit stehenbleiben lassen, nur um noch länger dieser Aussicht ausgesetzt zu sein. Das Schönste am Tag ist die Dämmerung, wo die Nacht zum Tag wird und der Tag zur Nacht. Nur um so etwas jeden einzelne Tag sehen zu können, stehe ich freiwillig früher auf. Und dass schon seit drei Jahren. Insgesamt 1095 Sonnenaufgänge und 1095 Sonnenuntergänge konnte ich in diesen drei Jahren beobachten und jedes Mal aufs Neuste bin ich fasziniert. Jeden Tag schieße ich ein Foto der Dämmerung, nur um festzustellen, dass diese sich nur ähneln, aber nicht die gleichen sind, denn jede Dämmerung verläuft in der Theorie gleich ab, aber in der Praxis jedoch etwas verschieden. Jeden Tag kommen zwei weitere Fotos auf meine bestückte Wand. Und jeden Tag freue ich mich über meinen errungenen Fang.

Mittlerweile steht die Sonne an ihrer Startposition am Osten, um dann am Ende im Westen unterzugehen. Mein Kopf lehnt an dem Fenster, wobei die kalte Scheibe mir eine Gänsehaut verleiht. Meine Augen wollen zugehen, um in einen erholsamen Schlaf zu gleiten. Leider habe ich die Rechnung ohne meinen Wecker gemacht. Dieser reißt mich ohne jegliche Vorwarnung aus meinem Halbschlaf, sodass ich müde und ohne jegliche Motivation von meiner Fensterbank aufstehe, um diesen viel zu schrillen Ton abzustellen. Die Möglichkeit bestünde einfach im Bett zu bleiben und aus versehen zu verschlafen. Aber ich will schließlich keine Fehlstunden haben und ich kann sowieso nicht einschlafen. Einmal wach, immer wach. Außerdem ist heute Freitag, was bedeutet, dass das Wochenende und somit zwei Tage des ausschlafen auf mich warten.

Es ist komisch zu sagen, dass ich die halbe Nacht wach im Bett lag und nachdachte. Ich meine, es kommt so gut wie nie vor, dass ich am nächsten Morgen total müde und unausgeschlafen aufstehe. Dabei ist es noch merkwürdiger zu sagen, dass ich die halbe Nacht über diesen Jungen nachgedacht habe. Ich kenne ihn überhaupt nicht und trotzdem hat er etwas an sich, dass mein Interesse weckt. Ich würde zugern sagen, dass dieses Treffen eine vollkommene Zeit- und Energieverschwendung ist, aber das geht nicht, denn im Nachhinein ist es doch nicht so schlimm gewesen, wie vermutet. Selbstverständlich hat er mich für einige Momente zur Weißglut gebracht. Um ehrlich zu sein ist er wirklich speziell. Speziell im Sinne von merkwürdig, bizarr, eigentümlich und und und. Ich könnte noch weitere Adjektive nennen, aber auf einer ganz komischen Art und Weise fallen mir keine ein, denn so gut tue ich ihn nicht kennen. Er ist nicht wie ich. Und ein weiteres Treffen käme nicht in Frage. Es war eine einmalige Sache und dabei belasse ich es auch.

,,Sabah al kheir, mufadil."

Ich drücke Mama einen Küss auf ihre Wange und erwidere ihre Begrüßung. Gähnend nehme ich auf einem der Stühle platz, um mir dann etwas Tee in ein Glas zu schenken. Aymen begrüßt mich, indem er mir durch mein Haar wuschelt, damit ich im Endeffekt mit nur noch mehr Knoten zu kämpfen haben werde. Leise lauschte ich dem Gespräch und wundere mich, wie man am frühen Morgen schon so fit zum Reden sein kann. Mein Blick ist auf die rosé gefärbte Flüssigkeit gerichtet und meine Gedanken schweifen immer wieder zum gestrigen Tag über.  

~*~

Mittlerweile ist eine Woche vergangen, ohne dass ich ihm begegnet bin, was mir auch recht sein kann. Der Tag nach dem Treffen war die reinste Qual. ich war müde, konnte mich kaum konzentrieren, ohne, dass meine Gedanken sofort wieder abgedriftet sind. Selbst Iman merkte, dass ich nicht ganz bei der Sache war, aber  weiter nachgefragt hat sie glücklicherweise nicht. Ansonsten verlief die Woche ruhig und ohne irgendwelche Zwischenfälle. Je mehr Zeit verging, desto weniger dachte ich an ihn. In meinem Leben kehrte so langsam wieder der Alltag ein, wobei dieses Treffen in gewissermaßen etwas besonderes war. Ich verspürte vom Anfang bis zum Ende, und noch danach, eine Spannung, ein Kribbeln, als stünde mein Körper unter Strom. Es war berauschend, ungewohnt und interessant. Die Anspannung ließ nicht nach, denn die Gefahr war groß erwischt zu werden. Von meinem Vater. Von meinem Bruder. Von jemand bekanntes. 
Wenn es um das Thema Jungs ging , War das Misstrauen gegenüber jedem und die  Angst mein ständiger  Begleiter. Mag sein, dass es sich etwas hochgespitzt anhört, aber in einer sehr religiösen und kulturgeprägten Familie ist es nicht unüblich, dass man gerne bewacht wird. All diese Mühe für etwas, was man Ehre nennt. Ohne die Ehre ist man ein Nichts. Und durch einen Verstoß der Ehre könnte man sogar von der Familie verstoßen werden. Meistens gilt dies nur für die Mädchen der Familie; die Jungs jedoch haben ein gefühlt unbeschwertes Leben. Diese werden bevorzugt und wie Prinzen behandelt, auch wenn sie ihre Unschuld verlieren ist dies nicht weiter schlimm, da diese keine Mädchen sind. Aber was die meisten nicht wissen, ist, dass es in der Religion für beide gilt. Manchmal frag ich mich, weswegen ich ein Mädchen bin und womit ich es verdient habe so eingesperrt zu sein. Als Mädchen soll man sich benehmen können, immer höflich und brav den Mund halten können. So etwas wie Liebe kann nicht in der Jugend auftreten, man verliebt sich nur einmal und das in den eigenen Ehemann. So etwas wie Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Mädchen existiert nicht, da diese Unzucht betreiben können und am Ende wäre das Mädchen Schuld, weil sie gefälligst aufpassen sollte, was und mit wem sie etwas macht. All das wird für dieses kleine Wort getan, all das nur für die Ehre.

Sabah - Das Mädchen, das auf die Liebe verzichtetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt