Ich bin du

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Tim schaute verwirrt. Er hatte mit einer simplen Antwort gerechnet und nicht mit so einer Aussage. Erstaunt fragte er den Mann, was diese Antwort bedeute, doch der Mann schwieg.
„Wer ich bin, ist unbedeutend. Wer ich jetzt bin, ist unbedeutend. Auch wer ich in Zukunft sein werde, ist unwichtig. Wichtig ist: wer ich war! Wer deine Freunde waren, wer deine Eltern waren..."
Der Mann machte eine Pause und atmete tief ein: „Wer du warst!"
  Tim wurde unwohl bei dem Gedanken, dass er schonmal gelebt haben könnte. Was, wenn er ein Serienmörder war oder sein eigener Großvater oder... In diesem Moment wurde Tim schlecht. Er hatte keine Zeit mehr nur ein weiteres Wort zu sagen. Er übergab sich auf den klinisch weißen Fliesenboden. Einmal, zweimal, dreimal... Tim konnte sich nicht daran erinnern, dass er soviel gegessen hatte, doch es war der Fall.
  Der seltsame Mann reagierte schnell und hielt einen Eimer unter das Gesicht des spuckenden Jungens. Langsam streichelte er Tim über den Kopf. „Das wird schon", grinste er.
  Tim würgte immer noch vor sich hin, doch er hatte alles an Speiseresten aus seinem Magen in den Eimer erbrochen. Gallensäure bahnte sich den Weg ans Tageslicht. Tim würgte nur. Er dachte nicht über das nach, was der Mann gesagt hatte. Nicht darüber, dass er ihm über den Kopf gestreichelt hatte. Nicht einmal darüber, dass er sich immer noch erbrach.

  Einige Minuten später war auch das letzte bisschen Körperflüssigkeit aus Tims Körper gewichen. Er röchelte. Sein Hals tat weh. Der Mann stellte den Eimer ab, als er merkte, dass es Tim wieder besser ging.
„Wer sind Sie?", wiederholte Tim.
„Hast du nicht zugehört? Es geht nicht darum, wer wir sind, sondern darum, wer wir waren."
„Und: wer waren Sie?"
„Du"
Tim verstummte. „Ich?"
„Ja, ich war du."
„Aber: wie ist das möglich?"
„Nichts ist unmöglich."
Tim schaute den Mann seltsam an. Je länger er hinsah, desto mehr Ähnlichkeiten mit sich konnte er feststellen. Die spitze Nase und das leicht eingefallene Kinn. Die Stirn des Mannes, der Tim zusein schien, war von seinen Haaren bedeckt. Die Augenbrauen waren buschig und leicht grau. Der untere Teil des Gesichts war glatt rasiert. Nicht der kleinste Ansatz eines Haares war zu sehen. Je länger Tim nachdachte, desto mehr versuchte er die Stimmung zu lockern.
  „Kennst du Inception?"
  „Natürlich kenne ich Inception. Ich bin du. Alles, was du weißt, weiß ich auch. Und du wirst gleich ‚Was?' sagen, weil du nicht glauben kannst, dass ich das weiß."
  „Was?" Zuerst war Tim begeistert, dass der Mann dies wusste, bis ihm auffiel, wie dumm er eigentlich war.
  „Und: du fühlst dich jetzt dumm, weil du ‚Was?' gesagt hast." Spätestens jetzt verlor Tim jeden Zweifel, dass dieser Mann nicht er sein könnte. Er war es.
  „Was machst du hier?"
  „Jedes Jahr um diese Zeit, also wenn du so alt bist, wie ich... also wie du... also..." Der Mann verstummte, „Alles wird gut, alles wird gut..." Der Man  streichelte Tim wieder über den Kopf.

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