2. Türchen - Weihnachtsfrühling

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Weihnachtsfrühling

Komm, lass uns denken, es wäre heut,
Heute noch einmal wie damals vor Jahren,
Als unterm ersten Weihnachtsbaum
Junge Leute wir beide noch waren.

Drinnen im Zimmer der flimmernde Baum,
Draussen das lautlose Flockengestiebe,
Nur wir beide und niemand sonst -
Ja - noch ein drittes: unsere Liebe.

Ach, in dem Zimmer wie still es war -
Hörst du es noch, das selige Schweigen?
Siehst du die winkenden Träume noch
Aus dem Born der Verheissung steigen?

Träume - wo sind sie? Im rinnende Strom
Sind mit der Zeit sie dahin geschwommen,
Liebe - wo blieb sie? Ihr süsses Gesicht,
Ward es nicht alt und hat Falten bekommen?

Da, wo das selige Schweigen war,
Tobte da später nicht manchmal Gewitter?
Herzen voll Unmut, grollender Blick -
Ach, und von Worten der Mund so bitter?
Komm, es ist Weihnacht, am Himmel der Stern,
Ganz wie damals glänzt er noch heute,
Draussen drängen die Kinder sich
Ganz wie damals, glückselige Leute.

So wie ich damals den Baum dir geputzt,
Schmück' ich ihn heut dir mit Äpfeln und Nüssen;
Lass uns denken, es sei noch der,
Der sich freute an unsern Küssen.
Horch - da draussen auf Treppe und Gang
Kommt da nicht jemand verstohlenen Schrittes?
Türe auf - zu uns zweien herein
So wie damals kommt noch ein drittes.

Unsere Liebe ist wieder da!
Ach, wie dein Antlitz mir lächelt und leuchtet!
Wie das lockige Haar dich umwallt!
Wie dein Auge so süss sich feuchtet!

Komm, so wie damals komm an mein Herz,
Das vor allen dich einzig erlesen.
Kummer, Enttäuschung, Hader und Groll,
Alles, alles ist Traum nur gewesen.

Was unsre Herzen damals gefühlt,
Das war Wahrheit, ist es geblieben.
Weihnacht sagt's, und wir wissen es heut,
Dass wir uns lieben, dass wir uns lieben.

(Ernst von Wildenbruch 1845-1909, deutscher Schriftsteller)

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