Gelangweilt ließ ich meinen Blick durch den überfüllten Raum schweifen. Hier wurde unangenehm laut gelacht, dort waren zwei Jugendliche, die sich vor einer knappen Stunde zum ersten Mal gesehen hatten wild am rumknutschen. Ein Großteil der Leute war betrunken. Entnervt zog ich mein Handy aus meiner Hosentasche, knipste den Bildschirm an und warf einen Blick auf das Gerät. Noch drei Stunden bis ich endlich von hier verschwinden konnte. Um mir die Zeit ein wenig zu vertreiben, entsperrte ich das Smartphone und öffnete Instagram. Meine Laune sank noch ein weiteres Stück, als ich sah, was die App mir empfahl: Bilder von Frauen mit übermäßig viel Schminke im Gesicht und wahrscheinlich etlichen Filtern über dem Bild. Ich ließ das Handy sinken, bereute es aber sogleich wieder, als ich sah, dass sich vor mir praktisch ein Live-Porno abspielte. Angeekelt hob ich meine Hand wieder und begann, irgendein unnötiges Spiel auf dem Smartphone zu spielen. Warum nochmal hatte ich meinen sogenannten Freunden versprochen zu kommen? Nach einer kurzen Begrüßung war ich sowieso links liegen gelassen geworden, da hätte ich den Abend viel lieber zu Hause verbracht. Mit einer warmen Decke und dem Fußballpiel, das gerade übertragen wurde. Ob es wohl jemand bemerken würde, wenn ich jetzt einfach verschwand? Ich sah mich unauffällig um, um die Lage zu checken. Alle schienen beschäftigt zu sein. Ich verzog das Gesicht. Auf einige Anblicke des heuigen Abends hätte ich gut und gerne verzichten können.
So unauffällig wie möglich stand ich von dem alten blassbraunen Sofa auf und schlenderte in Richtung meiner Jacke. Ich sah mich ein letztes Mal um. Und dann schlüpfte ich schnellstmöglich durch die Tür nach draußen. Meine „Freunde" konnten mich mal.
Erleichtert schloss ich die Augen und atmete die angenehm kühle und frische Luft ein. Endlich hatte ich das Gefühl, wieder frei atmen zu können.
„Auch keine Lust auf die Party?"
Erschrocken fuhr ich herum und öffnete schlagartig die Augen. Vor mir stand ein Mädchen, das ziemlich genau in meinem Alter sein dürfte, und sah mich offen an. Meine Augen wanderten über ihren Körper. Von ihrem Gesicht zu den Schuhen und wieder zurück. Ich kannte dieses Mädchen noch nicht einmal und trotzdem hatte es es bereits geschafft mich zu überraschen. Im Gegensatz zu den meisten anderen hier schien sie nämlich auf natürliche Schönheit zu setzen. Man sah ihr die wenige Schminke, die sie trug, kaum an und ihre Haare waren zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden. Der Teil ihrer Kleidung, den ich sehen konnte, bestand aus einem beigen Mantel, welcher einen wunderbaren Kontrast zu ihren braunen Haaren bildete, einer schwarzen Jeans und dunkelbraunen Schuhen, die ihr bis knapp über die Knöchel gingen.
„Ne, ich hab besseres zu tun, als fremden Leuten stundenlang beim Knutschen zuzuschauen", erwiderte ich.
Das Mädchen sah mich verständnisvoll an. „Geht mir genauso. Ich wollte mich heute Abend eigentlich vor den Fernseher pflanzen, aber dann ist mein Cousin auf die tolle Idee gekommen ich könnte ihn auf diese Party hier begleiten, damit ich mal wieder unter Leute komme." Genervt verdrehte sie die Augen.
Wie auf's Stichwort hörte ich eine Stimme. „Milaaaa!"
„Wenn man vom Teufel spricht", murmelte die Brünette. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. „Was ist denn so dringendes, dass du gleich die ganze Nachbarschaft taub machen musst?", rief sie zurück. Ein Schatten trat hinter dem Haus hervor und kam auf uns zu. Als er näher kam, konnte ich ihn als jungen Mann – ich schätzte ihn auf dreiundzwanzig Jahre – ausmachen. Er blieb schließlich bei uns stehen und besah mich mit einem skeptischen Blick, der mir allerdings nicht sonderlich viel ausmachte.
„Wer ist das?" Ein forschender Unterton hatte sich in seine Stimme gemischt. So war das also; erst darauf bestehen, dass seine Cousine auf diese Party geht und dann den Aufpasser spielen. Was für ein Idiot.
„Er ist jemand, den ich hier kennengelernt habe. Das wolltest du doch." Milas Stimme hatte einen zuckersüßen Ton angenommen, doch aus ihren Augen schienen Blitze zu sprühen. Ich wagte zu behaupten, dass sie sich grundsätzlich nicht sonderlich gut mit ihrem Cousin verstand.
Der Junge öffnete den Mund und sah die Brünette empört an, ihm schienen aber für einen Moment die Worte zu fehlen. Mila nutzte das zu ihrem Vorteil und zog mich mit sich, als sie das Grundstück verließ. „Wir sehen uns", rief sie und hob zum Abschied ihre freie Hand. Hinter uns hörte ich ihren Cousin rufen, sie solle gefälligst zurück kommen und kurz darauf einige andere Stimmen, die ihm sagten er solle sie einfach lassen.
Meine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, als ich Mila neben mir ansah. Dieses Mädchen hatte definitiv Biss.
„Was grinst du so?", wollte sie wissen und drehte ihren Kopf zu mir. Wie hatte sie mein Grinsen sehen können?
„Ich finde es super, wie du dich da gerade durchgesetzt hast. Du bist anders als die meisten Mädchen", antwortete ich ehrlich. Ich kannte sie kaum, aber sie war mir sympathisch. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns auf einer Wellenlänge befanden. Mila senkte den Blick und betrachtete für einige Sekunden den Gehweg, den wir entlanggingen.
„Danke", meinte sie, als sie den Blick wieder hob. Kurz war ich gefangen in ihren braunen Augen, die mir zeigten, wie viel ihr meine Worte bedeuteten. Mila schien unberechtigterweise nicht oft Komplimente zu bekommen.
„Und was machen wir jetzt?", fragte ich, um die Stimmung wieder zu lockern.
„Naja, eigentlich wollte ich mir die Live-Übertragung des Fußballspiels heute angucken, aber irgendwie", sie stockte, wusste nicht, ob sie ihren Satz beenden sollte.
„Irgendwie?", hakte ich behutsam nach.
„Irgendwie will ich nicht, dass die Zeit mit dir schon endet. Ich würde dich gern kennenlernen", sagte Mila.
Ich lächelte sie an. „Das will ich auch nicht. Rein zufällig hatte ich auch vor, mir das Fußballspiel anzuschauen, was hältst du also davon, wenn wir zu mir gehen und es gemeinsam sehen?", schlug ich vor. Erst als sie zögerte fiel mir auf, dass für sie eigentlich alles dagegen sprach die Einladung zu einem Fremden nach Hause anzunehmen. Ich merkte, wie sie mit sich rang und schließlich ihre Entscheidung traf.
„In Ordnung. Na dann führe mich."
Das tat ich dann auch. Während die anderen Partygäste sich also in einem stickigen Raum bei zu lauter Musik gegenseitig auffraßen, saßen Mila und ich mit einer Decke über den Beinen auf meinem gemütlichen Sofa, sahen uns ein wirklich spannendes Fußballspiel an und bewarfen uns gegenseitig mit dem Popcorn, das wir uns in der Halbzeitpause schnell gemacht hatten.
Im Nachhinein war es eine der besten Entscheidungen meines Lebens gewesen, auf dieser Party aufzukreuzen, denn sonst hätte ich Mila vielleicht nie kennengelernt.