6. Tommy

14 4 0
                                    

"Vergiss mich nicht." hauchte der Junge und umfasste sanft ihr Gesicht. Seine rauen Hände lagen angenehm warm auf ihren rot gefärbten Wangen und für einen kurzen Moment erlaubte sie sich, die Augen zu schließen und sich vollkommen in diese Berührung hineinfallen zu lassen.

Unterschwellig spürte sie bereits, wie nach und nach das Gefühl des Schmerzes in ihr hinaufstieg. Es kroch in ihre Knochen und machte sie bewegungsunfähig. Es lähmte ihre Muskeln und ließ sie brennen wie Feuer. Es lag ihr im Magen wie ein Stein, schwer und träge und gefühlt unzerstörbar.

Es kostete sie all ihre Kraft, die Arme um ihn zu legen und sich so fest an ihn zu klammern, dass es sich für eine trügerische Sekunde so anfühlte, als könnte sie ihn hier behalten. Sie atmete seinen Duft ein, versuchte ihn in sich aufzunehmen, zu speichern, die bittersüße Note von Pampelmuse gemischt mit wildem Pfeffer und einem Hauch von Rebellion. 

Er roch wie zuhause. Ihr zuhause.

Verzweifelt vergrub sie ihren Kopf in seinem Nacken, krallte ihre Hände in seine Kapuzenjeansweste und hielt die Luft an. Vielleicht könnte sie so die Zeit anhalten. Sie müsste nie mehr weitermachen. Nur noch hierbleiben. Hier an die diesem Ort, den sie nicht kannte. Wo all diese Menschen waren, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte und die sie scheinbar nicht im Ansatz zu bemerken schienen. Hier, wo diese Band spielte, die ihr völlig fremd war und wo überall leichter Nebel waberte, der von den Scheinwerfern der Bühne in ein beinahe magisch gelbes Licht getaucht wurde.

Liebevoll küsste er sie auf die Stirn, ehe er sich mit sanftem Druck aus der Umarmung löste und schmerzlich lächelte, als er ihre tränengefüllten Augen sah. "Ich werde dich vermissen." flüsterte er. Dann dehte er sich um und bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmasse.

Einen Moment lang stand sie einfach nur da. Vollkommen regungslos. Sie fühlte sich wie betäubt. Doch dann, als sie realisierte, was hier gerade geschah, war es, als ob ein Blitz durch sie hindurchzuckte.

"Nein!" schrie sie.

"Bitte! Bleib doch stehen."

Panisch rannte sie in die Richtung, in die er verschwunden war. Verzweifelt versuchte sie sich einen Weg durch die immer dichter werdenden Menschenmassen zu bahnen, stieß immer häufiger mit anderen Leuten zusammen und kam schon bald gar nicht mehr voran. Ihr Atem ging pfeifend, als sie mit brennenden Lungen einen beinahe leeren Pfad entlangspurtete.

"Bleib doch hier!" rief sie flehend, doch er drehte sich nicht um.

"Bitte! Nur einen kurzen Augenblick!"

Doch er ging weiter.

Keuchend kam sie zum stehen. Die Band spielte in ihrem Rücken einen lauten Rocksong und so hörte keiner ihre letzten geflüsterten Worte:

"Bitte Tommy....Bitte....Lass mich nicht allein!"

Immer mehr Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie merkte, wie ihre Sicht mehr und mehr verschwamm. Auf einmal begann sich alles zu drehen und ein schmerzvolles Ziehen fuhr ihr durch den Kopf.

Mit einem lauten Keuchen öffnete sie die Augen. Ruckartig setzte sie sich auf und blinzelte in die undurchdringliche Dunkelheit. Kalter Schweiß glänzte auf ihrer Stirn und ihr ganzer Körper zitterte. Langsam spürte sie, wie die Kälte in ihren Körper kroch. Er war weg, das spürte sie. Er war weg und er würde nicht zurück kommen.

Kraftlos sackte sie in sich zusammen und begann stumm zu schluchzen.

Zitternd atmete sie ein...und da nahm sie sie wahr, die bitterüße Note von Pampelmuse gemischt mit wildem Pfeffer und einem gehauchten Versprechen:

".....Niemals....."

Denk mal fünf Minuten nachWo Geschichten leben. Entdecke jetzt