Kapitel 1

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„Es wundert mich dass sie es sich nicht anders überlegt haben, Ms. Sutton. Sie sind doch so ein liebes, junges Mädchen.".
Avery sah müde zu der alten Frau vor ihrem Tresen auf. Es war ein langer Tag gewesen und ihr Bedürfnis sich mit der selben, freundlichen Diskussion zu quälen wie schon die letzten drei Tage hielt sich in Grenzen.
„Tja, sieht wohl so aus als würden sie mich nicht mehr so schnell los werden.". Sie riss den Kassenbon aus dem Drucker und legte ihn auf das Buch vor ihr.
„Möchten sie eine Tüte dazu?"
Die Dame lehnte dankend ab und steckte den Groschenroman in ihre Handtasche.
„Niemand möchte sie los werden, Darling. Ganz im Gegenteil: Wir alle bewundern ihren Mut hierher zu ziehen."
„Oh, das ist kein Mut. Das ist das Wissen dass ich viel zu langweilig bin als dass mir irgendetwas passieren würde. Wenn hier jemand reinkäme der abenteuerlustig genug ist um sich einer Gang anzuschließen, dann würde derjenige sofort vor Langeweile sterben; spätestens wenn ich anfange von Oscar Wilde zu erzählen.", sagte Avery während sie die besorgt dreinblickende Frau zur Tür begleitete.
„Ich fürchte", sagte diese „ dass sie nicht so ganz wissen wer sich in Downfal so alles rumtreibt."
Avery's Blick folgte ihrem als sie in den Nebel vor dem Buchladen starrte. Er war ein tückisches Wesen in diesem Ort; quoll immer genau dann hervor wenn man dringend irgendwo hin musste, und lag er dann einmal auf den Straßen und Felden musste man sich schon blind auskennen um seinen Weg zu finden. Avery kannte sich nicht blind aus. Das hatte sie deutlich zu spüren bekommen als sie gleich am ersten Abend nach ihrem Umzug ,pitschnass und sich ihrem baldigen Tod absolut sicher, von einem besorgten Straßenarbeiter aufgegabelt hatte werden müssen.
„In diesem Nebel kann sich jeder verstecken. Ich möchte nur dass sie nicht so enden wie der arme Jimmy Banks."
Ja, wie Jimmy Banks wollte sie auch nicht enden. Bei ihrer Wohnungssuche in Downfal war es unmöglich gewesen nicht auf den Banks-Fall zu stoßen; es stand in allen Artikeln über die Gegend.
Er war mit siebzehn nach Downfal gekommen, so wie sie, in der Hoffnung Arbeit zu kriegen. Einen Monat später fanden sie seine Leiche im Straßengraben. Er war erstochen und geschlagen worden, viele berichteten auch von Anzeichen von Folter, und auf seiner Schulter waren ihm zwei Teufelshörner ins Fleisch eingebrannt worden. Avery hatte sich von einem Bericht zum Nächsten geklickt bis sie das Gefühl hatte bei Jimmy Banks' Ermordung dabei gewesen zu sein.
„Seien sie bitte einfach vorsichtig, ja?". Mit diesen Worten verließ die letzte Kundin des Tages den Buchladen. Avery sah ihrer gebeugten Gestalt nach bis sie im Nebel zu einer verschwommenen Silhouette wurde.
Die Bewohner Downfals schienen sich schon längst an die Bandenaktivitäten gewöhnt zu haben, oder zumindest fanden sie sich damit ab. Wenn man sie darauf ansprach zuckten die meisten einfach mit den Schultern.
„Bleiben oder gehen.", sagten sie „Dass sind die Optionen. Hier ist unser Zuhause und das lassen wir uns nicht nehmen.". Und was sollte man darauf schon antworten? Avery wusste es jedenfalls nicht.
Mit einem Seufzer stieß sie sich vom Türrahmen ab. Nach fast zehn Stunden im Laden wollte sie nur noch unter eine warme Decke schlüpfen und eine Woche durchschlafen. War es verwerflich schon um halb neun ins Bett zu gehen? Vielleicht, aber Avery beschloss diesen Abend eine Rebellin zu werden.
„Ein Kampf gegen das System." murmelte sie und schüttelte ihre faust halbherzig gen Himmel. Dann machte sie sich an den Aufstieg in ihr Apartment über dem Laden. Die Treppe hatte 42 Stufen und schaffte es mit jeder einzelnen ein anderes, Trommelfell zerreissendes Geräusch zu produzieren. Es hörte sich ein wenig so an als würde darunter ein sehr großes, sehr hässliches Tier sehr laut schnarchen. Zum Glück mochte Avery große, hässliche Tiere .
Bis zu ihrem 11. Lebensjahr hatte sie sich leidenschaftlich um ihr Erdferkel namens Shakespeare gekümmert. Am Anfang war Shakespeare noch garnicht so groß gewesen, da hatte die vierjährige Avery ihn sogar an einem erinnerungswürdigen Vormittag heimlich in ihrem Rucksack in den Kindergarten schmuggeln können (Keine Kindergärtnerin kennt wahres Chaos bis plötzlich ein aufgeregt grunzendes Erdferkel in ihrer Gruppe von schreienden Kindern herumtollt.) , doch als er ausgewachsen war musste jedesmal die gesamte Familie Sutton antanzen  wenn er mal wieder aus dem Teich gezogen werden   musste.
Avery wollte gerade die Tür am Ende des Treppen-Ungetüms aufschließen, da klingelte es unten.
Sie seufzte.

Um neun in DownfalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt