Junior kam nie wieder auf die Beine. Er starb, kurz vor Weihnachten im Lagerraum der Waschanlage der Tankstelle seines Vaters. Beim Sturz über den umgekippten Stuhl hatte er sich sein eigenes Messer, das er wenige Momente vorher aufgeklappt in seine Hosentasche gesteckt hatte, in die Aorta getrieben. Weil der Schmerz so groß war, hatte er das Messer aus der Wunde gezogen und so sein eigenes, ungehindertes Ausbluten in die Wege geleitet. Er starb allein. Lara hatte seinen Tod nicht mehr mitbekommen. Sie hatte das Lager durch die Tür verlassen, durch die sie hineingekommen war. Sie war zum Nachbarn getaumelt, mit gefesselten Händen und blutendem Mund. Der Nachbar hatte Polizei und Krankenwagen gerufen, Lara kam ins Krankenhaus zur Versorgung ihrer körperlichen Wunden. Eine mittelschwere Gehirnerschütterung und ein Schleudertrauma, zwei geprellte Rippen sowie diverse Blutergüsse vorrangig im Gesicht aber auch am restlichen Körper.
Anschließend kam sie in psychologische Behandlung zur Versorgung ihrer seelischen Wunden. Panikattacken, Depression und beklemmende Schuldgefühle sowie Angstzustände, die sie lange am erneuten Wiedereintritt in die Arbeitswelt hinderten.
Junior hatte nicht ausführen können, was er ursprünglich geplant hatte, aber Jahre später noch hörte Lara seine Worte in ihrem Kopf.
<< Ich sag dir jetzt mal was, du dumme Schlampe. Du hast noch gar nichts verstanden! Ich werde dir heute mehr wehtun als du dir vorstellen kannst. Ich werde dir körperlich und seelisch wehtun. Ich werde dich brechen, du arrogante Kuh! >>
Und obwohl Lara in der Therapie gelernt und akzeptiert hatte, dass es nicht ihre Schuld war, sah sie sich immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob es nicht tatsächlich doch an ihr gelegen hatte. Hätte sie an jenem - mittlerweile von ihr als schicksalhaft titulierten - Dienstag freundlicher reagiert, wäre es dann überhaupt zu dieser Eskalation gekommen?
Sie wusste es nicht. Niemand wusste es.
Also musste Lara mit dieser Ungewissheit leben, die manchmal schwerer, manchmal weniger schwer an ihr nagte und sie ihr Leben lang begleitete.
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Lara
Short StoryDie Weihnachtszeit ist stressig. Besonders, wenn man Post- und Paketzusteller ist. Genervt und überarbeitet reagiert Lara bei einem Kunden ungehalten und bekommt bald darauf die Konsequenzen ihres Handels zu spüren. Es ist zu beachten, dass der Inha...