„Und der Eiskönig schwang sich auf den Rücken seines Schneebären, der seine mächtigen, weißen Pranken hob und die fremden Soldaten einfach in der Luft..."
Ich wischte mit der Hand knapp über dem Boden entlang, sodass der frische Pulverschnee aufwirbelte und den Kindern ins Gesicht blies. Die einen zuckten erschrocken zurück, die anderen kreischten vor Vergnügen und blickten mich mit großen und erwartungsvollen Augen an. Ich beugte mich näher zu ihnen und auch die Kinder rückten näher an mich ran. Wir bildeten einen verschwörerischen kleinen Kreis neben dem Feuerplatz in der Mitte des Dorfes.
„Nachdem der Schneebär alle Männer um sich herum in die Flucht geschlagen hatte, führte er seinen Herren, Haran den Bärtigen und sein Gefolge zu einer Höhle. Und dort fand der Eiskönig seine Prinzessin. Er befreite sie aus ihrem frostigen Gefängnis und nahm sie mit in den Eispalast hoch in den Bergen, wo er sie heiratete. König Haran und seine neue Königin bekamen viele kleine Eisprinzen und Prinzessinnen und ab diesem Tag herrschte seine Familie über Helcanór und tut es noch immer."
Ich rückte wieder von den Kindern ab und breitete meine Arme aus, um das Ende der Geschichte anzudeuten. Die strahlenden Augenpaare um mich herum deuteten schon auf eine ganze Lawine an Fragen hin.
„Und reitet unser König denn auch auf einem Schneebären?", wollte Aiwe, der Junge des Gerbers, ganz begeistert wissen. Ich schenkte ihm ein geheimnisvolles Lächeln.
„Das weiß keiner mit Sicherheit. Seit vielen Jahren hat keiner König Rían gesehen, nur seine Boten kommen in die Dörfer, um seine Gesetze zu verbreiten", erinnerte ich ihn und erntete bekräftigendes Nicken der anderen Kinder.
„Natürlich sagt man, dass der ewige Schnee dem König zu Diensten ist, wie seinen Vorgängern. Immerhin ist er ja der Eiskönig, nicht wahr?"
„Aber meine Mutter sagt, das sind alles nur Märchen, die Du uns erzählst", warf Faol ein, ein älterer Junge, der mich schon seit Jahren am Feuer besuchte, und sah mich kurz skeptisch an. Doch er wandte den Blick wie immer schnell wieder ab, was mich aber nicht störte. Meine tiefblauen Augen mussten im Schein des Feuers funkeln wie eine Höhle aus Eis, das war den meisten Menschen ziemlich unangenehm. Es erinnerte sie an die Augen der Schneebestien, die sie so sehr fürchteten. Daher zuckte ich nur mit den Schultern und behielt mein Lächeln bei.
„Deine Mutter ist eine weise Frau, ohne Frage", sagte ich und wischte mit einer Hand durch den Schnee. Als ich die Hand nach oben zog, sah es so aus, als würde der Schnee meiner Hand folgen, statt einfach nur wieder zum Boden zu rieseln. Die Kinder rissen allesamt die Augen erstaunt auf.
„Was man nicht mit eigenen Augen gesehen hat, soll man schließlich nicht leichtfertig glauben", meinte ich dann mit einem Zwinkern in Richtung des älteren Jungen, während der Schnee langsam zu Boden sank.
„Hast du schon einmal einen Schneebären gesehen? Oder eine Schneespinne?", wollte ein kleines Mädchen wissen, das mich heute zum ersten Mal besuchte. Sie hing an der Hand ihrer älteren Schwester, Leena, die nur die Augen verdrehte. Sie stammten aus einer Jägerfamilie und ich wusste, dass Leena schon mit ihrem Vater zur Jagd ging. Shila war für die Jagd noch zu jung und hatte vermutlich nicht mal einen Schneehasen gesehen. Und die waren wirklich nicht gefährlich. Ich musste lachen und schüttelte den Kopf.
„Nein, ich habe noch keine Schneespinnen gesehen, immerhin leben die nur ganz tief im Frostwald. Da mag ich nicht hin", gab ich ganz offen zu. Ob Legende oder nicht, ich wollte wirklich nicht riskieren, so einem Biest zu begegnen.
„Einen Schneebären habe ich schon mal gesehen, aber ich denke, er war noch klein und nicht so groß wie der von König Haran. Aber ich bin trotzdem schnell weggelaufen."
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Die Eisdrachen von Helcanór
FantasyIn einem Land, in dem nur der Adel Magie beherrscht, muss die Geschichtenerzählerin Aideen ihre Kräfte verstecken. Doch die Bestien des Königs wittern ihre Spur. Brendan steht seit seiner Kindheit in Dienst und Schuld des Königs. Doch sein Herz und...