Kapitel 01: Begegnungen - Teil 02

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Die Sonne neigte sich schon bedrohlich dem Horizont entgegen, als die Fänge sich endlich vor mir erhoben. Die Fänge waren riesige Gebilde aus Eis, Gestein und Schnee, die hoch in den Himmel ragten wie die Zähne einer kolossalen Schneebestie, und sich in beide Richtungen so weit erstreckten, dass ein Umweg mehrere Stunden dauern würde.

Es handelte sich um eine natürliche Grenze, hatte mir der Dorflehrer einmal erklärt. Im Laufe von vielen, vielen tausenden Jahren verschob sich die Erde, wallte sich gegeneinander auf und so entstanden Berge, Täler und all das. Oder eben die Fänge. Sein Wissen stammte aus den südlichen Ländern wie Ruinbar, wo er sich alles Wissen angeeignet hatte, das in Helcanór verloren gegangen war.

Faols Großmutter hatte einmal behauptet, hier hätte ein Kampf zwischen zwei Eisdrachen stattgefunden, die die Erde mit ihren mächtigen Krallen aufgerissen hätten wie den Leib eines Ochsen.

Wie auch immer die Fänge entstanden waren, wenn ich nicht um diese Eismauer herum wollte, musste ich hindurch. An dieser besonderen Stelle trafen die Eisberge so schräg aufeinander, dass sich ein breiter Spalt darunter gebildet hatte, der in eine fröstelnd blaue Dunkelheit führte. Es erinnerte mich an den Rachen eines Eisdrachen, weswegen ich diese Stelle den Schlund nannte. Korin hatte in dem Versuch, mir ein Kompliment zu machen, meine Augen einmal mit dem Schlund verglichen. Der Versuch war gescheitert.

Es war schon bei Tag unheimlich, dort hindurchzugehen, aber jetzt da die Sonne meinen und Harans Schatten in die Länge zog, schien der Weg noch viel dunkler und bedrohlicher. Ich glitt aus dem Sattel und nahm meinen Hengst stramm bei den Zügeln. Auch wenn er das liebste Tier der Welt war, er ließ sich nicht durch diesen Spalt reiten. Also musste ich ihn hinter mir herziehen, mit beruhigenden Worten locken und hoffen, dass wir es bald hinter uns hatten.

Mit jedem Schritt wurde es gefühlt dunkler in der Schlucht. Vermutlich Wolken, dachte ich mir, während ich weiterging und einen besonders unruhigen Hengst hinter mir herzog. Haran ließ sich überhaupt nicht wie sonst besänftigen und auch ich wurde zunehmend von dieser Unruhe angesteckt. Ich versuchte, die düsteren Gedanken abzuschütteln, musste fast lachen bei der Vorstellung, dass ich mich vor ein paar Wolken fürchtete. Aber es wurde kälter, das Licht schwand und das machte es unheimlicher als sonst.

Als wir endlich das andere Ende erreicht hatten und wieder ins Freie traten, atmete ich erleichtert auf. Doch als ich mich Haran zuwandte und wieder aufsteigen wollte, pfiff mir plötzlich ein eisiger Wind die Kapuze von den Ohren und Haran stieg wiehernd in die Luft, riss sich aus meinem Griff und stürmte los, Richtung Zuhause.

„Haran!"

Mein verärgerter Schrei blieb mir fast im Hals stecken. Ich wollte ihm gerade hinterhereilen, als ein riesiger Schatten über mich hinwegfegte. Ich traute mich nicht, nach oben zu schauen. Mein Blick haftete an Haran, als der Schatten in die Tiefe stürzte und zwei scharfe Krallenpaare sich in den Rücken meines treuen Tieres bohrten.

Das Pferd schrie und auch mir entwich ein schriller Schrei, als er in die Luft gehoben und sein Leib mit einem grauenhaften Geräusch in zwei Hälften gerissen wurde. Mein Magen überschlug sich, die Galle stieg mir in den Hals und ich drohte in die Knie zu gehen.

Wenn das ein Schneeadler war, hatte er nun sein Abendmahl, aber irgendwas sagte mir, dass ich falsch lag. Es tat zweimal einen dumpfen Schlag, worüber ich nicht weiter nachdenken wollte. Dann sank auch der große Schatten zu Boden und ich musste endlich den Blick heben.

Eine Schneeharpyie.

Mindestens zwei Pferdelängen ragte das Ungeheuer in die Höhe und ihre Flügel spannten sich noch einmal doppelt so weit nach den Seiten. Ihr Gefieder war strahlendweiß, wo es nicht gerade mit Pferdeblut bedeckt war. Der Oberkörper hatte menschliche Züge, doch statt einem Mund hatte sie einen spitzen, gekrümmten Schnabel. Und oh Himmel, ihre eisblauen Augen fixierten mich abwartend.

Die Eisdrachen von HelcanórWo Geschichten leben. Entdecke jetzt