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"Du siehst heute richtig dumm aus."
Das war der erste Satz, den Johann an diesem schönen Tag von mir zu hören bekam. Er hatte tiefe, dunkle Augenringe und man hätte glatt denken können, er hätte die Nacht durchgemacht. "Danke", murrte er so energiegeladen, wie er aussah und schaute mich müde an. Ich grinste ihm ins Gesicht, seine Miene verdunkelte sich ein wenig und noch ein bisschen mehr, als der Lehrer hereinkam.

Ich hatte mir irgendwie angewöhnt, das jeden Tag zu sagen, weil er meistens einfach aussah, als hätte man einen gerade schlafenden Waschbären aus einer Mülltonne gezerrt. In seinem Gesicht konnte man die unfassbare Menge von Motivation ablesen, die ihn durchströmte. Die Menge war null. Nicht greifbar, absolut unvorstellbar für ein Wesen unserer Intelligenz.

So ging es also weiter, bis ich eines ereignislosen Donnerstages ein Bild auf Instagram zu sehen bekam. Darauf stand geschrieben, wie dumm es war, dass so viele Menschen auf Arschlöcher und ignorante Männer stehen - angetrieben von der Hoffnung, sie könnten das ändern, und den guten Menschen hervorkitzeln. Ich markierte Anna in einem Kommentar, in dem ich zudem Johann erwähnte, und wie naiv ich sei, dass ich mittlerweile Gefühle für das in ihm entwickelt hatte, was ich für einen brauchbaren, liebenswerten Menschen hielt. Ich dachte für den Rest des Tages nicht weiter darüber nach, doch am nächsten Tag sollte mir der Kommentar zum unvorhersehbaren Verhängnis werden.

Ich ging also, wie gewohnt, morgens zur Schule. Nach einer langwierigen Französischstunde klingelte es endlich zur Pause und die Lautstärke im Klassenraum schwoll sofort auf ein Vielfaches an, als hätte man einen Schalter umgelegt. Ich nahm mein Frühstück aus der Tasche und begann, mich, wie gewohnt, mit Benjamin, Anna und Johann über irgendetwas Belangloses zu unterhalten. Das taten wir also einige Minuten, bis Johann zu mir sah, und mich direkt ansprach. Für mich wirken blaue Augen irgendwie immer, als würden sie direkt in meine Seele starren, weshalb eine leichte Nervosität an meine Tür klopfte. "Hast du nicht etwas vergessen?", fragte er. Mit keinem einzigen Gedanken in meinem Hirn gab ich ein verwirrtes "Häh?" von mir. Er fragte mich, ob ich ihm denn nicht noch etwas erzählen müsse (Ungünstige Formulierung seinerseits, wenn man mich fragt). Ich verstand nicht, was er von mir wollte; möglicherweise auch, weil er mich die ganze Zeit ohne Unterbrechung erwartungsvoll anblickte. Dann plötzlich blitzte in meinem Kopf eine Idee auf. Er musste den Kommentar gesehen haben, wie auch immer das passieren konnte. Ich riss die Augen auf und schaute hilfesuchend zu Anna, die seelenruhig weiter ihre Banane aß. "Was meinst du??", fragte ich, etwas verzweifelt wieder zu Johann gewandt. "Du hast doch vergessen, mir was zu erzählen." "Hast du ihn gesehen?" Ich spürte, wie mein Gesicht warm wurde. "Wen gesehen?" Er runzelte die Stirn. "Ich meine das, was du mir jeden Tag sagst?" Es begann zu dämmern. "Ooooh, du siehst heute wirklich ausgesprochen dumm aus." Ich lachte angespannt und wäre am liebsten aufgesprungen und weggerannt. "Danke", nickte er, "aber was soll ich gesehen haben?" "Ach, nicht so wichtig", erwiderte ich. Er bat mich noch ein paar Male, es ihm zu sagen, bevor es klingelte und unsere Mathestunde begann. Ich verfluchte Anna innerlich dafür, dass sie mir nicht geholfen hatte und überlegte angestrengt, wie ich aus dieser Misere entkam.

Nach Mathe beeilte ich mich, aus dem Zimmer zu kommen, und seinem weiteren Nachfragen aus dem Weg zu gehen. Ich ging schnell zur Toilette. Als ich wieder auf den Gang trat, stieß ich fast mit Johann zusammen, der mich nur überrascht anschaute. In der Schülermenge entdeckte ich Amira und ich fing an, mich mit ihr zu unterhalten. Gemeinsam mit ihr lief ich zum Biologieraum, das war der letzte Unterricht für diese Woche. Ich setzte mich auf meinen Platz neben Anna und noch während ich meine Sachen auf den Tisch legte, kam die Lehrerin herein. Sie war klein und dünn und rannte in der gesamten Stunde auf und ab. Aufgeregt versuchte sie uns zu erklären, was Osmose war und stocherte dabei mit ihrem Stift in dem Zellmodell vor ihr herum, um uns die einzelnen Abläufe zu erklären. Sie redete auf uns ein, als wir schrieben. Sie redete auf uns ein, als wir einen Text lasen und eine Aufgabe lösten. Sie redete viel zu schnell, als dass ich etwas verstand; der Vorteil war, dass die Zeit so sehr schnell verging. Eilig stopfte ich alles in meinen Rucksack, was mir allerdings nichts brachte, weil Anna länger brauchte als ich und ich auf sie warten musste. So kam es, dass ich als einer der letzten Schüler das Zimmer verließ. Neben Johann. Er fragte mich noch zwei oder drei Male, was ich in der Frühstückspause gemeint hatte, aber ich wimmelte ihn bestmöglichst ab - jedoch nicht sehr erfolgreich. Ich begleitete Anna zu ihrem Schließfach und holte mir mein Buch zurück, dass ich ihr ausgeliehen hatte. Schleunigst machte ich mich auf den Weg zum Ausgang, wobei ich erst von Felix angerempelt wurde und anschließend schon wieder fast mit Johann zusammenstieß. Es war fast, als würde das Universum mich dazu bringen wollen, es ihm zu sagen. Ich sah ihn also mit großen Augen an, bahnte mir dann so schnell wie möglich einen Weg nach draußen und floh nach Hause, wo ich direkt anfing zu weinen. Ich fragte mich, ob ich überhaupt genug Gehirnwindungen hatte, um ein normales, ungestörtes und unkompliziertes Leben zu führen. Es schien nicht so. Mein Handy unterbrach mich in meinem Selbstmitleid. Jemand hatte mir geschrieben. Johann fragte mich wieder, was er gesehen oder nicht gesehen haben soll. Ich antwortete, dass es nicht so wichtig sei, worauf er erwiderte, dass das offensichtlich nicht stimmte, sonst hätte ich ja nicht so reagiert, wie ich reagiert hatte. Nach einem kurzen Hin und Her sagte ich ihm also, dass ich Gefühle für ihn entwickelt hatte.

Wäre dies hier ein Liebesroman, würde er antworten, dass er ebenfalls etwas für unsere Protagonistin fühlte und sie zu seiner Prinzessin machen. Ist es aber nicht, deshalb verleihen wir unserer Geschichte lieber etwas Drama - das Leben ist schließlich kein idealisierter, schnulziger Rosamunde-Pilcher-Roman mit Happy End.

Für einige Minuten kam keine Antwort, bis mein Handy schließlich in meiner Hand vibrierte. "Ok", stand auf dem Bildschirm. War das sein ernst? OKAY? Ich war etwas sprachlos. Ich hatte vieles erwartet, aber wow. Die Messlatte war niedrig, und du bist darunter hindurchgekrochen.

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, ich bekam allerdings glücklicherweise eine weitere Nachricht von Johann. "Wir sind aber trotzdem noch Freunde, oder?" "Ja klar", antwortete ich, auch wenn die Sache für mich nicht ganz so klar war. Er versprach mir, niemandem von der Sache zu erzählen. Trotzdem hatte ich Angst, dass unsere Freundschaft in irgendeiner Weise unangenehm werden würde.

the girl behind the windowWo Geschichten leben. Entdecke jetzt