Ich starrte gedankenverloren auf den alten, flackernden Röhrenfernseher, auf dem gerade eine Dokumentation über Photosynthese lief. Es interessierte mich nicht im geringsten, was der Sprecher in seiner monotonen Stimme erzählte. Ich wollte nur, dass es endlich klingelte. An diesem schönen Freitag Nachmittag hatten wir nur 45 Minuten Biologie statt des üblichen Blockunterrichts, da wir in der letzten Stunde unsere Zeugnisse bekamen. Niemand hatte mehr Lust auf irgendetwas, es war brütend heiß in dem kleinen, stickigen Raum im Dachgeschoss und es roch nach einer unangenehmen Mischung aus Schweiß, Männerdeo und zu viel Parfüm.
Noch 4 Minuten. Ich angelte meine Wasserflasche aus meinem Rucksack, wobei ich versuchte, mich so wenig wie möglich anzustrengen. Es dauerte etwas, bis ich den Deckel mit meinen feuchten Händen aufgeschraubt hatte und einen großen Schluck trinken konnte. Ein leicht angeekeltes Geräusch rutschte mir heraus. Das Wasser hatte Körpertemperatur. Ein Mädchen drehte sich energisch zu mir, um mich mit einem missbilligendem Blick anzusehen. Ausdruckslos starrte ich solange in ihre Augen, bis sie sich endlich wieder von mir abwandte. Ich drehte den Deckel zurück auf meine Flasche und ließ sie so leise und unauffällig wie möglich in meinen Rucksack gleiten.
Noch 2 Minuten. Ich begann langsam, meine Stifte in meine Federtasche zu legen und Biologiebuch und -hefter wegzupacken; natürlich nicht, ohne mir vorher damit Luft zuzuwedeln. Ich hasste Sommer. Es war unangenehm heiß, die Sonne grillte alles, was sich vor die Tür wagte und überall waren kleine Kinder, Mücken und Wespen. Der Winter hingegen ist großartig. Alles glitzert, wenn es eingeschneit ist, man kann seinen Atem sehen, alles ist still und man konnte Hoodies tragen, ohne sich selbst darin dampfzugaren. Hoodies fand ich auch großartig. Wie gern würde ich jetzt einen Schneemann- die Pausenklingel riss mich aus meinem schönen Gedanken und unenergisch raffte ich mich auf. Ich schleppte mich in das Zimmer, in dem ich Französisch hatte, und ließ mich auf meinen Platz fallen. Ich lehnte meinen Kopf an die kühle Wand und schloss die Augen. Nicht mehr lange, dann konnte ich endlich zum zweiten mal heute duschen gehen.
Ich schreckte hoch, als etwas spitzes, unflexibles gegen meinen Hinterkopf schlug. Etwas verwirrt drehte ich mich herum, um in Johanns dümmlich grinsendes Gesicht zu sehen. "Aua, du kleine Snitch...", sagte ich, während ich den Papierflieger vom Boden aufhob und ihn in Richtung seiner Stirn warf. Abwehrend hob er seine Hand und schaffte es irgendwie, den Flieger mit seinem Zeige- und Mittelfinger aus der Luft zu fangen. Ohne großartig zu zielen beförderte er ihn wieder in meine Nähe; möglicherweise etwas zu kraftvoll, denn als ich mich schnell wegduckte, landete er genau in den langen und kaputten Haaren des eingebildeten Mädchens vor mir. Johann und ich schauten sie schockiert an und sie gab uns einen Todesblick, der etwas affig aussah. Ich verkniff mir ein Lachen. Als ich mich wieder zu Johann wandte sah ich, dass er dies nicht getan hatte und jetzt keuchte, weil er keine Luft mehr bekam. Seine Augen waren glasig vom vielen Lachen und er quetschte ein "dieser Blick" heraus, bevor er sich die Hände übers Gesicht legte und seinen Kopf auf der Bank platzierte. Still lachte er weiter. Der Französischlehrer betrat den Raum und als er hinter Johann vorbeilief, der direkt neben der Tür saß, sagte er mit einem Zwinkern: "Mensch, ihr habt ja 'nen Heidenspaß hier hinten." Belustigt schnaubte ich und setzte mich normal auf meinen Stuhl. Mit der Lehne im Rücken und nicht die Arme darauf abgelegt. Ich sah neben dem Mädchen vor mir, was immernoch ihre platten Haare mit ihren Acrylkrallen richtete, vorbei und wartete darauf, dass Monsieur Bernard die Stunde begann. Er war ein untersetzter, sehr netter und ziemlich verpeilter Herr mittleren Alters. Seine dunklen Locken begannen an einigen Stellen, grau zu werden und er hatte tiefe Lachfalten. "So meine lieben Herrschaften!", begann der Franzose, "Unsere letzte Stunde in dieser Konstellation. Der Ablaufplan für heute: Französischquiz, Stuhlkreis und dann bekommt ihr eure Témoignages. Also vite, vite, Zettel raus!" Summend setzte er sich ans Lehrerpult, während wir unsere Hefte öffneten. Er stellte uns die gleichen Fragen wie in den 5 Jahren Französischunterricht zuvor. In der letzten Stunde vor jeden Ferien machten wir immer das gleiche Quiz und er erzählte uns jedes Mal die gleichen Anekdoten wie beim Mal davor. Wir machten uns immer einen Spaß daraus, mit Absicht die falschen Antworten zu sagen, um Zeit zu schinden, doch heute wollten alle nur noch nach Hause. Als wir also jede seiner Fragen richtig beantwortet hatten, stand er auf. "Mes enfants, endlich habe ich euch etwas beigebracht!", sagte er mit einem Schmunzeln und klatschte in deine kleinen Hände, "Schiebt die Bänke an den Rand und setzt euch in einen Kreis, aber vite meine Herrschaften!" Mit unnötig lauten, dampferähnlichen Geräuschen wurden alle Schülerpulte an die Seite geschoben und man schubste sich gegenseitig mit Stühlen umher, um seinen bevorzugten Platz im Kreis zu bekommen. Den Sinn hierbei verstand ich nicht, man konnte immer alles sehen, egal wo man saß. Dann begann unser Gespräch. Es gab keinen Redestein oder -ball, sondern einen Rede-Eiffelturm von Monsieur Bernards Schlüsselbund. Wer ihn in der Hand hatte, musste etwas aus dem vergangenen Schuljahr erzählen und sagen, was er oder sie sich für das nächste wünschte. Monsieur Bernard war der Überzeugung, man müsse seine Wünsche und Gedanken immer äußern, wenn man will, dass etwas gutes passiert. Geheimnisse sind nicht gut, meint er.
Der Schlüsselanhänger vom Eiffelturm ging also einmal durch alle Hände. Als ich an der Reihe war und das Stück Plastik in der Hand hielt, musste ich kurz überlegen, was ich sagen wollte. Der kleine Eiffelturm glänzte silbrig und wenn man ihn so sah, hätte man denken können, er sei wirklich schwer. In Wahrheit war er aber aus federleichtem Material und war vermutlich einmal sehr billig gewesen. Und trotzdem hatte er all diese Jahre überlebt und war schon von hunderten Schülern angetatscht worden. Der Gedanke ekelte mich ein wenig an und ich sagte schnell, dass ich mich über meine guten Noten freue und ich keinen Stress im nächsten Jahr wolle, um das bakterienverseuchte Ding so schnell wie möglich loszuwerden. Der Eiffelturm war eben nicht nur voll mit Erinnerungen und emotionalem Wert. Kurz wollte ich mich selbst dafür schlagen, dass ich den Moment für mich so zerstört hatte, doch dann ertappte ich mich, wie ich die immer verzweifelter nach Ideen rangenden Schüler anstarrte, was mir ziemliche Schadenfreude bereitete, da ich ja bereits einer der Ersten und somit fein raus war. Nachdem wir damit fertig waren, diskutierten wir eine Weile über die Zukunft, nämlich die - hoffentlich - letzten zwei Jahre unserer Schullaufbahn. Dann wollten scheinbar viele meiner Mitschüler Studieren oder erstmal ein Jahr reisen oder arbeiten, um sich selbst zu finden. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich in meinem Leben mit mir anfangen möchte, weshalb ich nichts zum Gespräch beitrug und nur geduldig wartete, bis das Thema beendet war. "So meine lieben Herrschaften, seid ihr bereit?" Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er energisch auf und eilte zu seiner vollgestopften Tasche, aus der er einen dunklen Lederumschlag zog. Er setzte sich zurück in den Stuhlkreis und begann damit, uns nacheinander aufzurufen. Monsieur Bernard schüttelte jedem einzeln die Hand und beglückwünschte uns. Als er mich aufrief, stand ich auf, um mir mein Zeugnis abzuholen und ich wurde gelobt, dass ich mich vom Halbjahr so sehr verbessert hatte. Lächelnd setzte ich mich wieder und schob das Blatt in eine Hülle meiner Zeugnismappe. Als alle wieder saßen, wünschte der Lehrer uns schöne Ferien und einen guten Start für unser Abitur. Wir schoben alle Tische und Stühle wieder an ihre Plätze und packten unsere Sachen zusammen. Dann, endlich, durften wir gehen. Ich verabschiedete mich zuerst von Amira, Sophie, Franzi und Benjamin. Einen kurzen Moment zögerte ich, doch Johann hatte mich schon in den Arm genommen. Ich erwiderte die Umarmung, verabschiedete mich von ihm und verließ dann gemeinsam mit Anna das Klassenzimmer, jedoch nicht, ohne mich noch kurz zu Franzi umzudrehen, die etwas verloren wirkend mit ihrer Blume, die sie für ihre Leistung bekommen hatte, dastand und scheinbar nur mit halbem Ohr Amira zuhörte, die sich gerade über irgendetwas aufregte.
Auf dem Gang fragte Anna mich dann, wie es mit Johann aussehen würde und ich erzählte ihr auf dem Weg nach draußen von unserem Gespräch letzten Freitag und dass wir einfach immer noch Freunde waren. Ich war wirklich dankbar dafür, dass sich keine komische Beziehung zwischen uns entwickelt hatte, sondern dass einfach alles noch genauso lief wie vor meinem Geständnis. Ein bisschen schien es mir so, als hätte er vergessen, dass ich das überhaupt gesagt hätte.
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the girl behind the window
Genç KurguDie Pubertät schlägt zu... Lieber Leser. Mach dich gefasst auf die volle Ladung Dummheit, Überforderung, unnötigen Ausschweifungen und Details, Tränen, dummen Witzen und sinnlosen Übertreibungen. Sämtliche Parallelen zur realen Welt und echten Perso...