9 // Roter Schleier

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Die spitzen Halme bohren sich durch die Decke und pieksen meinen ganzen Körper. Die Scheune, die ich mir als Schlafplatz ausgesucht habe, ist nicht gerade warm. Die schwere Duftwolke von Heu dehnt sich aus und lässt keinen einzigen Zentimeter unbefleckt. Ich liege in der Lücke von zwei großen Heuballen, aus denen hin und wieder ein paar der trockenen Halme auf mich herunter rieseln.

Immerhin ist diese Scheune leer und ich hoffe, dass sie nicht überwacht wird. Denn natürlich, bin ich kein geladener Gast. Aber das Tor war nicht verriegelt, also sind sie selbst Schuld.

Bedrückt versuche ich etwas Schlaf zu bekommen, doch meine Gedanken wollen einfach nicht die Klappe halten. Immer wieder erinnere ich mich an ihn zurück, an den Jungen mit den smaragdgrünen Augen. An den Jungen, der wegen mir zum Mörder geworden ist, mein Retter. 

Ich möchte ihn so gerne wiedersehen, ihn kennen lernen und vor allem: Ich möchte mich bei ihm bedanken.

Wie sein Gesicht wohl aussehen mag? 

Immerhin kenne ich seine Augen und diese werde ich wohl nicht so schnell vergessen. Jedes Mal wenn ich meine schließe, erscheint deren Farbe auf dem Inneren meiner Lider. Außerdem kenne ich seine Hände. Das verrät zwar nicht besonders viel, aber ich weiß, dass er einen Ring trägt. Automatisch fährt meine Hand an mein anderes Handgelenk, an die Stelle an der sein fester Griff ruhte. Sofort erinnere ich mich an das Datum, das für kurze Zeit in meine Haut gedrückt war.

16.12.2004

Was geschah an diesem Tag? 

Neugierig versuche ich mein ganzes politisches und geschichtliches Wissen aus den tiefsten Stellen in meinem Gehirn auszugraben und mich an Ereignisse an diesem Tag zu erinnern. Und diese Stellen sind sehr tief. Doch ich kann an nichts gravierendes denken. 

Aber na ja, warum sollte er auch ein politisches Ereignis in einen Ring verewigen? Wahrscheinlich ist es etwas Privates. 

Ein plötzliches Krähen reißt mich kurz aus den Gedanken. Ich sollte schlafen, aber ich kann meine aufgeregten Gedanken einfach nicht beruhigen. Diesen Tag konnte ich noch nicht verarbeiten, weshalb sich nun wieder und wieder die Erinnerung abspielt.

Doch plötzlich muss ich etwas Erschreckendes feststellen. Etwas, das mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen war. Etwas, das erneut Tausende von Fragen aufwirft.

Seine Kleidung.

Er trug ebenfalls kein mittelalterliches Gewand.

Seine Kleidung war schwarz.

Sie war modern.

Kann das sein? Nein, das kann es nicht. Wahrscheinlich habe ich mir das nur... Aber, was wenn doch? Ist er etwa, so wie ich?

Spätestens jetzt wird mir klar, dass ich diese Nacht keinen Schlaf mehr bekomme.

Ich richte mich auf. Meine Gedanken sind so wirr und ungeordnet. Fragen überkreuzen sich, Verwirrung häuft sich. Mein Kopf droht zu platzen, wenn ich mich nicht endlich ablenke.

Das Verlangen nach Antworten macht mich irre.

Da ich im Sitzen immer noch keinen klaren Gedanken fassen kann, schlüpfe ich in meine Stiefel und laufe zum Tor, welches ich so leise wie möglich öffne und herausschleiche. Eigentlich muss ich mich ja nicht verstecken, da ich meine Kleidung gewechselt habe und so in der Masse untergehen würde. Aber es muss ja trotzdem keiner wissen, dass ich illegal den Besitz eines Anderen betreten habe.

Sanfter Wind zieht über das große Feld und verheddert einige dunkelbraune Strähnen meiner Haare. Doch meine verknoteten Haare sind gerade nicht so wichtig, wie meine verknoteten Gedanken. Fragen über Fragen kreuzen sich mit überspitzten Vermutungen, die sich aus wahllosen Wörtern zusammensetzen. 

Time traveler // h.s.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt