Die Mauer, die hinter den tristen Fassaden aufragte, war so fest und unerschütterlich wie jeden Morgen. Nebelschwaden verschleierten die Fugen und mein Atem kondensierte. Stieg auf bis zum Horizont, dessen scharfe Kante schleichend langsam von Moos überwuchert wurde. Es war noch früh am Morgen und die Sonne hatte sich noch nicht über die Barriere gekämpft.
Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen Körper. Mein Blick glitt zu den Kronen der alten Tannen. Sie mussten größer sein als alles, was ich bisher gesehen hatte, wenn sie es schafften, über der Mauer aufzuragen. Wie ein Protest der Natur, ein Zeichen, dass sie den Kampf noch nicht aufgegeben hatte. Wie ein lauerndes Monster, das auf einen Fehler wartete, den es ausnutzen konnte.
Der Wind sauste durch Nurvias Straßen und entfachte ein kaltes Pfeifen in meinen Ohren. Über das Rauschen hinweg kristallisierten sich wispernde Stimmen. Sie riefen mich – doch ich konnte nicht zu ihnen kommen.
Aber bald!
Ein flüchtiges Lächeln huschte über mein Gesicht. Heute war der Beginn eines neuen Lebens. Heute würde sich so vieles verändern und der Wunsch, der mich seit langen Jahren aufwühlte, würde sich endlich erfüllen.
Heute war der Tag der Eintragung.
Seit genau einer Woche war ich siebzehn Jahre alt. Volljährig. Damit erlangte ich gleichzeitig das Recht, zu entscheiden, was mit meinem Leben passieren – und wofür ich kämpfen würde.
Für Gerechtigkeit.
Für die Menschheit.
Nie im Leben war etwas anderes für mich in Frage gekommen. Ich würde Hunter werden wie meine Eltern – und damit ihr Vermächtnis fortführen. Ich bekam die Möglichkeit, die Stadt zu ernähren und zu beschützen. Und ich würde endlich das sehen, was hinter dieser Mauer lag ...
Ein leises Geräusch verriet mir, dass jemand neben mich getreten war. Ich brauchte mich nicht umzusehen, um zu wissen, wer es war.
Conec und ich trafen uns oft hier – vor der Schule, an den freien Tagen, oder vor dem gemeinsamen Lauftraining. Wir trafen uns, um uns ins Gedächtnis zu rufen, warum wir das alles taten. Um uns auszumalen, was uns erwarten würde, wenn wir am Ziel angelangt waren.
Eine Zeit lang standen wir schweigend da. Der Wind riss die Geräusche der Stadt in Fetzen. Es wurde angenehm still.
„Bist du auch so aufgeregt wie ich, June?" Nur widerstrebend löste ich meinen Blick von der grauen Steinmauer. Conec sah müde aus. Seine braunen Locken waren zerzaust. Wie ich hatte er wohl nicht schlafen können und sich noch vor dem Morgengrauen aus dem Bett gekämpft und sich bis hierher geschleppt.
Ich nickte. Conecs dunkle Augen leuchteten. In ihm schienen dieselben Gefühle zu pulsieren wie in mir: freudige Erwartung, Ehrgeiz und eine gewisse Anspannung angesichts der bedeutsamen Aufgabe, die uns bald auferlegt werden würde.
Conec war mein bester Freund seit Kindertagen. Als seine Mutter vor einigen Jahren bei einem Angriff ums Leben gekommen war, quälte ihn derselbe Gedanke wie mich:
Es musste etwas passieren.
Mein Blick wanderte zum Castle, das weit im Osten hinter den Häusern zu erkennen war. Die Festung der Hunter. Seine Mauern wirkten wie die Standbeine unserer Stadt, die zahlreichen Schießscharten vermittelten ein Gefühl von Sicherheit. Würde der Schlimmste aller Fälle eintreten, könnten die Bewohner sich im Castle verstecken.
Vor dem riesigen Gebäude erwachte Nurvia zum Leben. Es waren schon einige Menschen auf den Straßen, ließen den Ort lebendiger erscheinen, als er war. Es wurde Handel getrieben – meist durch Tausch. Die wenigen Münzen, die es aus der Zeit vor dem großen Angriff noch gab, hatten ihren Wert verloren. Sie galten als Erinnerungsobjekte, zu finden nur bei wehmütigen Großeltern oder in der Schule – als Anschauungsobjekte. Die Erwachsenen wollten, dass möglichst viele Erinnerungen an die Gesellschaft erhalten blieben. Die Geschichte, sagten sie, sei äußerst wichtig. Dass wir über unsere Vergangenheit Bescheid wussten, unterscheide uns maßgeblich von den Tieren.
Es würde uns allerdings nicht im Geringsten beim Überleben helfen. Aber diesen Gedanken behielt ich für mich. Er wurde nicht gern gehört.
In dem Moment, in dem ich mich zu Conec herumdrehen wollte, riss ein ohrenbetäubendes Geräusch die Stadt aus ihrer Trance. Ein Heulen, das durch die Straßen rollte wie eine zerstörerische Welle. Ich brauchte nur Sekundenbruchteile, um zu erkennen, was es war.
Die Sirene.
Elektrisierendes Adrenalin schoss in meine Adern. Conec rief mir etwas zu, aber ich verstand ihn nicht. Die Furcht überwältigte mich. Das grausige Geräusch schrillte in meinen Ohren und ließ meinen Körper erstarren.
Das Heulen hielt eine ganze Weile an und klang langsam ab. Dann verstummte es ganz.
Kurzzeitig konnte man das Schweigen hören. Das absolute Schweigen. Diese schreckerstarrte Stille vor dem Sturm. Die ganze Stadt hielt den Atem an.
Dann wurde die Sirene wieder laut und die Menschen erwachten ruckartig zum Leben.
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Hunters - und die Jagd beginnt
FantasyDie Menschheit ist vom Aussterben bedroht und ringt mit der Natur ums nackte Überleben. Menschen verschanzen sich hinter hohen Mauern in Festungen vor den grausamen Bestien, die die Welt inzwischen beherrschen. June tritt der Organisation bei, die...
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