Prolog - Walls are meant for climbing

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Von weitem sah die Landschaft aus wie die zweidimensionale Rückwand einer Theaterkulisse.
Die Vorsprünge, Verschneidungen und Risse der Gebirgsformation wurden erst deutlich, als sich das kleine Ruderboot schwankend dem Fels näherte.
Die Farben des Himmels, des Steins und des Wassers entstammten ein und derselben Farbpalette. Tiefes Blau, verziert mit weißen Wolken. Moosiges Grün, das die Wand hinauf wuchs. Selbst der Kalkstein unterschied sich in seinen Gesteinsschichten in den verschiedensten Tönungen. Von grau über cremeweiss bis zu kupferrot.
Die Gegebenheiten heute waren nicht ideal. Die Wellen brachen bis hoch über dem Einstieg und ließen das erste Drittel der Route feucht und rutschig werden. Die weiße Gischt waberte schaukelnd auf dem aufgewühlten Wasser.
Bereits hundert Meter vor dem Fels schoben die Wellen das Boot auf die Wand zu, sodass Milo dagegen rudern musste um sich vorsichtig zu nähern.

„Jule, kannst du das Tau um den Stein dort drüben schlingen? Dann stößt das Boot nirgends an während wir draußen sind." 
Sie warf die Knetmasse die sie in ihrer Hand geformt hatte um ihre Finger aufzuwärmen ins Boot und befestigte das Tau.
„Sehr gut. Jetzt gilt es. Ich gehe vor und wenn ich drei Meter Abstand gewonnen habe kommst du nach. Wenn du fällst dann springe ich ab und werde dir aus dem Wasser helfen. Keine Angst wegen der Wellen, sie machen die Oberfläche nur weicher, versprochen."
Trotz seiner sachlich beruhigenden Worte stieg ihr Puls und ließ ihren Herzschlag im Hals spürbar pochen.
Schwimmen konnte Julia mehr schlecht als recht, überhaupt hatte sie Sport immer gehasst. In der Schule hatte man sie nie freiwillig ins Team gewählt und schon als Kind hatte sie sich lieber hinter Büchern verkrochen als raus zu gehen.
Klettern war kein Sport. Klettern war die Aussöhnung mit allen Hindernissen an denen man gescheitert war. Selbst an jenen, an denen man sich nie versucht hatte.
Ruhig atmen, einfach machen. Die Schlüsselstellen hatte sie an einem alten Scheunentor nachgeschraubt und jeder schwierige Handgriff und jeder Tritt waren ihr zur Routine geworden.
Die Route, die für Milo eine immer willkommene Herausforderung  darstellte, war zu ihrem Langzeitprojekt geworden. Sie wollte es jetzt unbedingt schaffen. Hier und heute.
Für Außenstehende hob sich die Linie, die Julia sofort ins Auge gesprungen war, als sie zum ersten Mal hierher gekommen waren, wahrscheinlich überhaupt nicht vom übrigen Fels ab. Alle Kletterer aber die hierher kamen spürten, während ihr Blick die Route hoch wanderte, bereits wie sich ihre Körper dabei bewegen würden. Weite Züge, sorgsam gesetzte Tritte, tiefe Atemzüge, klug gewählte Ruhepunkte. Sie war wunderschön. Man konnte an ihr in fließenden Bewegungen alle Konzentration auf den Moment fokussieren. Dafür tat sie all das hier.

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