Woher kam der Akzent mit dem er sprach? Studierte er und half hier nur aus? Mit Sicherheit. Waren seine Eltern stolz auf ihn? Hatte er eine Freundin? Hatte er letzte Nacht mit ihr geschlafen?
Sie rührte durch den Milchschaum und schalt sich für ihren Erfindungsreichtum. Sie hielt ihn für eine Gabe, aber wenn sie den letzten Schluck Cappuccino wegen ihm versäumte, dann hinderte er sie daran, den Augenblick zu erleben. Eine Notwendigkeit zum Glücklich sein, an der sie vehement feilte. Wobei sie auch in das kleine Café, dass kürzlich in der Sternstrasse eröffnet hatte, gekommen war, um neue Eindrücke zu gewinnen und die Menschen boten ganz unweigerlich die beste Quelle neuer Eindrücke an solch einem Ort.Sie wartete auf Sage und fühlte sich lebendiger dabei. Manche Menschen energetisierten einen mit ihrer Anwesenheit, oder mit der Erwartung ihrer Anwesenheit.
Vor Julias Tisch, an der Theke, bestellte eine korpulente Rothaarige einen Coffee to Go. Sie stand so dicht mit dem Rücken zu ihr, dass sie sie hätte berühren können, hätte sie nur den Arm ausgestreckt.
Ein unrasierter Mann mittleren Alters stieß an die junge Frau, als er sich seinen Weg an ihr vorbei bahnte und ihre Blicke trafen sich. Er zwinkerte verlegen und beugte sich zu ihr.
„Es tut mir leid, dass ich sie angerempelt habe. Sie duften ganz wunderbar."
Man sah ihr die Verwunderung an und bevor sie antworten konnte, war er längst verschwunden. Was mit dem Nachhall seiner Worte geblieben war, war die Spannung die ihre Wirbelsäule aufrichtete. Ihr Gesicht hatte sich erhellt. Ihre Gegenwart war spürbarer geworden.
Warum konnte man nicht immer mit jenem Selbsterleben durch die Welt gehen, dass man gewann wenn vier banale Worte und ein sanftes Lächeln auf einen trafen?„Hey Süße!" Sage hatte den Laden betreten und hauchte Julia einen Kuss auf die Wange.
Ihre Art sich zu kleiden hatte immer etwas so sorgsam minimalistisches, dass man sie wie ein kühnes Kunstwerk zu betrachten vermochte. Wie ein modernes Gebäude eines jungen Architekten, das man nicht ganz verstand, aber das sich mit den großen Fenstern und den Nussbäumen dennoch erstaunlich gut in die Landschaft einfügte.„Magst du auch noch einen Kaffee oder sollen wir gleich los?"
„Lass mich einen Kaffee bestellen. Der Kellner hat einen süßen Po und ich würde ihn gerne von vorne sehen."
Julia grinste.
„Wo ist der nächste verfügbare Carsharing Spot?"
„Am Schlosspark."
„Wow. Könnte es nicht noch ein bisschen weiter weg sein?"
„Möglich wär's gewesen." Julia zuckte mit den Schultern.
Der Herbst schüttelte mit kühlem Atem das Laub von den Bäumen, aber der Himmel hatte sich geklärt und zerfloss in den verschiedensten Pastellfarben.
Sie liefen am Fluss entlang und schwiegen. Die Lichtblitze auf dem Wasser sprühten wie Funken. Jeden Morgen und jeden Mittag beobachte Julia das wandelnde Spiel der Wellen, die weiße Gischt und das Treiben in der Schifffahrtsschneise. Immer wieder fragte sie sich warum Jakob stets mit grimmiger Miene auf die gleiche Szene gesehen hatte. Der Staub aus den Schiffsschornsteinen hatte ihm die Lunge verklebt, die salzige Luft die Augen, das Chaos seiner Gedanken das Hirn. Aber Jakob war Geschichte und hinterließ das Trümmerfeld eines Kriegsschauplatzes.
Sage spürte die über Julia kommende Glocke der Erinnerung und ertastete mit ihren Fingerspitzen ihre Hand. Sie verschränkten die Finger ineinander und Julias Schritte lösten sich vom Boden. Ihre Füße federten beim Gehen und sie würde sich nicht wundern, wenn sie eines Tages zu schweben beginnen würde, wäre nur Sage da und hielte sie an der Hand.*
Der Motor des VW UP röhrte verzweifelt mit jedem Kilometer den sie sich der Rennstrecke näherten, als fürchtete er sich davor, dass er gleich selbst den Kampf aufnehmen müsste.
Sage vertrat das Hotel in dem sie arbeitete bei einem Benefizrennen. Zwar hatte sie zurzeit nicht einmal ein eigenes Auto, dennoch hatte es keiner ihrer Kollegen gewagt ihr die Aufgabe streitig zu machen. Obschon einige sich deutlich berufener fühlten, da Sage zwar schnelle Autos liebte, aber über das Design hinaus keinerlei Bewertungskriterien ansetzte.
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Vogelwild
AdventureJulia ist kürzlich zur Abteilungsleiterin befördert worden, ihre beste Freundin Sage leitet ein Hotel. Jung, erfolgreich - alles könnte perfekt sein. Doch Menschen mit undurchsichtigen Motiven, ausgemerzt geglaubte Schwächen und der ganz normale A...