Wenn alte Scheunen brennen

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Emil reckte seinen Kopf, um zwischen den Zahnputzspritzern etwas erkennen zu können. Seitdem er wieder alleine lebte, hatte sich seine Junggesellenbude nicht zum besseren gewandelt. Er befand seine Fliege dann schlussendlich doch als grade sitzend und stopfte sich das Hemd in die Hose. Schick gemacht hatte er sich ebenfalls schon länger nicht mehr. Wofür fragte er sich, er hatte überhaupt kein Interesse daran, irgendjemanden Neues kennenzulernen.
Anlass seiner Bemühungen heute war die Hochzeit seiner Nichte Eve. Sie war anscheinend plötzlich mit einem Ring am Finger aus dem Mädelsurlaub auf den Kanaren zurückgekehrt. Ihre Freundinnen hatten sie ab Tag drei nur noch spärlich zu Gesicht bekommen, weil sie sich mit einem Lehramtsstudenten aus Bremen vergnügte. Warum sie es jetzt so eilig hatte, ihn unter die Haube zu bringen, verstand Emil auch nicht. Die ganze Geschichte hatte ihm seine Schwester brühwarm bei Skype erzählt und er hatte seine Mühe und Not gehabt, ihren Redeschwall wieder zu stoppen.
Er mochte Eve sehr, sie war seine liebste Nichte, aber er hasste die schrille Stimme seiner Schwester. Noch bevor er den jungen Mann zu Gesicht bekam, hatte er die Einladungskarte in der Post gehabt. Vorne auf ein Foto von ihr und ihrem Angetrauten, wie sie ihm am Strand stürmisch in die Arme gesprungen war. Save the Date – Eve & Leander, zierte in geschwungenen Lettern die Front.
Er freute sich für sie und wünschte ihr alles Glück der Erde. Hoffentlich hatte sie sich das Ganze gut überlegt, aber nicht anders schätzte er seine kluge Nichte ein.

*

Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf den Tisch. Es behagte ihm irgendwie nicht, dass er am ‚Restetisch' platziert worden war. Er wurde auch den Verdacht nicht los, dass Eve sich etwas dabei gedacht hatte, auf dem Sitzplan ausgerechnet jeweils eine Dame zu seiner Linken und eine zu seiner Rechten einzuzeichnen. Es würde ihn nicht wundern, wenn die beiden Single wären.
Der Saal an sich gefiel ihm sehr gut. Man hatte eine alte Scheune zu einer Hochzeitslocation umfunktioniert, was ihr einen rustikalen, aber romantischen Charme verlieh. Die Dekoration war entsprechend nicht pompös oder kitschig, lediglich einzelne Gläser mit Teelichtern und duftende Wildblumen schmückten die in weißen Leinen eingedeckten Tische.
Die Tanzfläche, auf der sich die Menschen heute noch tummeln würden, war mit ihren schweren Holzdielen nicht unbedingt etwas für Pfennigabsätze.
Emil tanzte nicht, er war derjenige der den Rhythmus auf der anderen Seite bestimmt hatte. Zwar war er als Schlagzeuger nicht unbedingt im Fokus seiner damaligen Band gewesen, aber nach einem langen Abend hatte auch er seine Verehrerinnen in den Bann gezogen.

Wenige Minuten später kündigte sich das Brautpaar mit lautem Getöse schon aus einiger Entfernung an. Die Wenigsten befanden sich bereits im Festsaal, da sie die Liebenden und ihre Gefolgschaft draußen in Empfang nehmen wollten. Emil fragte sich, warum Freude immer mit Krach untermalt werden musste. Liebe war für ihn die meiste Zeit still und in sich ruhend.
An seiner Hand führte ein sehr junger Mann mit blondem, zerzaustem Haar die wunderschöne Eve in den Raum. Sie durchschritt eine Wolke bunten Konfettipapiers, das ihr in Schnipseln in den dunklen Locken hängen blieb. Emil stockte der Atem. Seine kleine Nichte strahlte über das gesamte Gesicht und der Stoff des A–Linienkleides zerfloss in feinster Spitze von ihrer Taille bis über die gewaltige Schleppe. Hinter ihr folgten drei kleine, engelsgleiche Blumenkinder, die in ihren  Tüllröcken und mit ihren kleinen Westen wie lebensgroße Püppchen wirkten. Alle Augen waren auf das Paar gerichtet, während sie sich auf dem Weg zu ihren Plätzen in übermütigen Tanzdrehungen durch den Raum bewegten.

Emils Ergriffenheit dämpfte sich abrupt, als zwei Damen neben ihm Platz nahmen. Eine der beiden stellte sich sofort als Gisela vor. Er konnte nicht abstreiten, dass sie tatsächlich recht nett wirkte und er ihr wohl Unrecht damit tat, so abgeneigt ihre Hand zu schütteln. Ihr dauergewelltes Haar sah aus wie die Föhnhaubenfrisur, die der Bassist seiner Band in den Achtzigern getragen hatte. Emil wagte es in der folgenden halben Stunde kaum, zur Seite zu sehen, da er ihren hartnäckigen Blick auf sich spürte. Jeder bestellte sich ein Getränk seiner Wahl und der erste Gang wurde serviert. Eine leichte Pilzcremesuppe mit Sprossengarnitur.
„Würde ich mit Wein beginnen, wäre ich ja sofort beschwipst", kicherte Gisela, als die Bedienung ein Glas Rotwein vor Emil abstellte. Er liebte einen guten Tropfen, und ein wenig Nebel im Kopf konnte aktuell auch nicht schaden.
Durch die lichtdurchlässige rote Flüssigkeit beobachte er die andere Dame seines Alters, die man seinem Tisch zugewiesen hatte. Ihr schulterlanges graues Haar hatte sie auf einer Seite hinter ihr Ohr gestrichen. Eingerahmt von Lachfältchen, die sich auch um ihr zartes Schmunzeln kräuselten, konservierten ihre hellen Augen ihr altersloses Inneres. Eine lang vergessene Wärme durchflutete ihn, als er ihre unsichere Bescheidenheit bemerkte. Sie war wie eine Blume, die durch eine dicke Betondecke ans Licht gebrochen war.
„Hallo? Hallo? Emil war doch dein Name, richtig?". Giselas Stimme drang nur allmählich wieder zu ihm durch.
„Ja, ja richtig." Er fühlte sich ertappt.
„Darf ich den Wein mal probieren?"
Beschwingt griff sie nach seinem Glas. Er konnte nicht einmal genau bestimmen, was ihn zu dieser Reaktion veranlasste, aber blitzschnell tauchte er seinen Zeigefinger mitten in das Getränk.
„Nein, eigentlich nicht", stammelte er, „jetzt war ich aber auch schon mit dem Finger drin."
Giselas Augen und Mund waren vor Empörung weit aufgerissen, als ein herzliches Lachen über den Tisch an Emils Ohren drang. Beide wandten ihre Köpfe zu der Quelle des Gelächters und verstohlen verbarg die fremde Frau ihren Mund hinter ihren Händen. Ihre Augenpartie reichte aus, um einen entschuldigenden Blick zu übermitteln.
Völlig beschämt sprang Gisela auf und stampfte durch den Raum. Sie tat Emil leid, aber er machte auch keine Anstalten ihr zu folgen.
„Das war gemein von mir. So bin ich sonst nicht", entschuldigte sich sein Gegenüber und er hätte ihrer sanften Stimme alles geglaubt, „Ich bin Marlene."
Von Schinken umarmtes Kalbsmedaillon an Drillingen und grünem Spargel schloss sich der Vorspeise an und Gisela blieb verschwunden. Emil dachte nicht weiter über sie nach, er war ganz froh über die Ruhe, die nun eingekehrt war. Seine Gedanken waren nach dem Bekanntwerden mit Marlene ohnehin seltsam ungeordnet.
Nachdem die letzten Teller abgeräumt worden waren, hatte eine Liveband ihren Auftritt angekündigt und die Tanzfläche wurde eröffnet. Das Brautpaar tanzte, anstatt sich der Tradition zu fügen und einen langsamen Walzer vorzuführen, ausgelassen und planlos.
Die Mehrheit lachte ansteckend und einige zogen sich gegenseitig in das Getümmel, um den Abend würdig zu eröffnen.
Emil und Marlenes Augen hefteten sich auf die Tanzfläche, doch machten sie keine Anstalten sich den anderen anzuschließen.
„Hey junger Mann", eine junge Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, „warum sind Sie nicht auf der Bühne?"
Eve ließ sich auf dem freien Stuhl neben ihm fallen. Er freute sich, dass sie endlich zu ihm gekommen war.
„Mir sind meine Bandkollegen weggestorben".
„Oh wie tragisch", sagte Eve mit gespieltem Ernst. In der Tat war Emil der einzig übrig gebliebene seiner Band und nahm es mit Galgenhumor. Auch seine Halbwertszeit war schon eine Weile abgelaufen.
Um Leander, der auf der Tanzfläche geblieben war, bildete sich eine Traube entzückter Brautjungfern. Irgendetwas schien die Frauen um ihn herum verrückt zu machen. Was Emil viel saurer aufstieß war die Tatsache, wie sehr Leander die Aufmerksamkeit genoss und seinen Blick über die Damen streifen ließ, wie es kein frisch verliebter Mann tun sollte. Als Emil damals seine Emmi geheiratet hatte, da hatte es nur sie und ihn gegeben und wahre Liebe änderte sich nicht. Sie war keine Frage der Generationen.

„Mir tun die Füße jetzt schon weh", stöhnte Eve und kramte mit ihren Händen unter mehreren Lagen Stoff.
„Kleines, ich freu mich, dass du glücklich bist."
„Danke Onkel Emil", sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn.
Dann näherte sie sich weiter zu seinem Ohr und flüsterte: „Ich habe gesehen wie du Marlene ansiehst. Sie hat auch vor zwei Jahren ihren Partner verloren. Denkst du nicht, es ist langsam an der Zeit?"
Eve lachte liebevoll und streichelte Emil über sein mürrisches Gesicht.
„Ich mein ja nur", seufzte sie, „du sollst dich zu nichts gezwungen fühlen, aber schau doch einfach, was passiert. So, jetzt knurrt mir der Magen. Als Braut kommt man ja immer als Letzte zum Essen. Amüsiere dich gut, Onkelchen!"

Das Unbehagen, dass ihm die Antipathie zu Leander bereitete und Eves bohrende Bitte, mit Marlene in Kontakt zu kommen, bewegten ihn dazu an die frische Luft zu gehen. Vielleicht war es auch die Mischung aus ihrem Drängen und der Tatsache, dass er nicht das Bedürfnis hatte sich dagegen zu wehren. Seine Abwehrhaltung bröckelte und das gefiel ihm so gar nicht.
Draußen dimmte die Abenddämmerung das Licht und der volle Mond beleuchtete den Innenhof. Die laue Sommernachtsluft streichelte Emils Lungen bei jedem tiefen Atemzug.
Etwas abseits, zwischen einigen Heuhaufen und Maschinen, tauchte Leander auf, durch dessen Finger der Stoffgürtel des Sommerkleides von Lara glitt. Lara war eine der jüngeren Nichten von Emil, höchstens sechzehn Jahre alt, aber schon in der Grundschule frühreif gewesen.
„Du siehst in diesem Kleid überhaupt nicht dick aus. Im Gegenteil."
Emil räusperte sich, da die beiden ihn bisher nicht bemerkt hatten. Leander zuckte zusammen und Lara verschwand in der Dunkelheit. Während dieser wie angewurzelt stehen blieb, kam Emil in bedachten Schritten auf ihn zu.
Ihm war es gleich, dass er für den Jüngling vielleicht wie ein grimmiger verbitterter alter Mann wirkte, aber er konnte nicht weiter schweigend zusehen.
„Wenn du meiner Kleinen weh tust", zischte er, „dann wirst du deines Lebens nicht mehr froh werden."
Leander nickte wissend. Wissend darüber, dass ihm bewusst war, was hier gehörig schief lief.

*

„Alles in Ordnung?".
Emil fragte sich, wie Marlene darauf gekommen war, dass etwas nicht stimmen könne, aber er beantwortete sich die Frage umgehend selbst. Wahrscheinlich war es für Beobachter verwunderlich, wenn man seinem Sorbet mehrere Minuten lang beim Schmelzen zusah.
„Ach, mir ist der Bräutigam nicht geheuer", grummelte er.
Marlene schmunzelte: „Ich kenne ihn, seit er klein ist. Er ist kein schlechter Junge, versteh das nicht falsch, aber für eine beständige Beziehung ist er nicht gemacht. Er war schon als Kleinkind ein Schlitzohr."
„Jemand muss Eve warnen!"
„Man kann junge Liebe nicht unterdrücken. Je mehr man ihr abriete, desto energischer würde sie daran festhalten."
Ihre milde Stimme schenkte ihm eine Art Seelenfrieden. Sie konnten an der Situation nichts ändern, jeder machte seine eigenen Erfahrungen. Emil hoffte nur, dass diese ihn Lügen strafen würde.
Marlene teilte mit ihrem Dessertlöffel einen schokoladigen Kern und balancierte etwas Krokant darauf. Es knackte, sie verschluckte sich und hustete. Emil sprang auf, um ihr helfend auf den Rücken zu klopfen, als ihr röchelnd das gesamte Gebiss aus dem Mund glitt und über den Tisch kullerte.
Ihre Wangen erröteten vor Scham, aber als er mit bebendem Bauch zu lachen begann, stimmte sie wie selbstverständlich mit tränenden Augen ein.

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[Entschuldigt die kleine Pause!]
Ich weiß nicht, ob der Spruch "Wenn alte Scheunen brennen" (also eig. "Wenn en ahl Schür brennt") außerhalb des Rheinlandes bekannt ist, aber er drückt soviel aus wie: Wenn ein älterer Mensch sich verliebt, dann so richtig.
Ich fand er passte ganz gut zu dieser Flashback/Sidestory.

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