6

98 15 20
                                    

Li

Jonah ist auf der Arbeit und hat somit mir das Haus überlassen. Hätte ich auch einen Job oder wäre schon mitten im Semester, wäre ich jetzt nicht so einsam. Sogar ein Grey's Anatomy Marathon wird irgendwann langweilig, vor allem, wenn man allein ist und sich mit niemandem reinsteigern kann. Und ich bin fast immer allein.

Als die Tür klingelt, ziehe ich in Erwägung, sie einfach nicht zu öffnen, entscheide mich dann aber dafür, doch sozial zu sein. Also öffne ich die Türe und will sie sofort wieder zuschlagen. Vor mir steht der Teufel, oder schlimmer. Keine Ahnung, als was man Alina Wolf einordnen kann. Eine Ausgeburt der Hölle ist sie allemal.

»Li», sagt sie und lächelt mich matt an. Ich kann ihre Fahne bis hierhin riechen, wie früher jeden Tag. Sie mag Wodka am liebsten. Ohne Eis.

»Ich hab' dir gesagt, du sollst nur in Notfällen kommen. Was für einen Notfall kannst du jetzt bitte haben? Es ist ein Dienstagvormittag.« Es war dumm, ihr meine neue Adresse zu geben, so verdammt dumm. Jonah hat mir davon abgeraten und Corey sowieso. Aber ich habe mich schlecht gefühlt und ich hatte Mitleid und ich habe sie ihr aufgeschrieben und das hätte ich nicht tun sollen. Denn jetzt steht meine Mutter vor meiner Tür und ich habe das Gefühl, gleich weinen zu müssen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie mich dazu bringt.

»Ich wollte meine Tochter sehen«, erklärt sie und seufzt leise. »Ist das denn so abwegig?«

»Wenn du sie jahrelang als Boxsack verwendet hast schon«, erwidere ich kühl und will die Tür zuschlagen, zu Merediths Liebesdrama zurückkehren, weiter in meiner schönen Blase versinken, doch meine Mutter, die diese Bezeichnung längst nicht mehr verdient hat, kommt mir zuvor und steht plötzlich in meinem Haus. Mein größter Albtraum steht in meinem Haus, in dem ich eigentlich vor ihr sicher sein sollte.

»Li, bitte hör mir zu«, bettelt sie und greift nach meinem Handgelenk. Ihre Berührung brennt wie Feuer auf der Haut, dabei ist ihre Hand eiskalt. Ich ziehe meinen Arm zurück und sehe sie nicht an, traue mich nicht, ihr ins Gesicht zu blicken. Es bringt zu viele Erinnerungen hoch. »Du weißt, wie schwer ich es hatte, nachdem dein Vater...« Sie bricht ab. »Und du...du musst mir nicht verzeihen.«

«Okay. Ich verzeihe dir nicht. Geh jetzt bitte.« Ich tue mein Bestes, nicht loszuheulen, irgendwie stark zu bleiben, auch wenn es mir so schrecklich schwerfällt. Ich tue mein Bestes, nicht an Papa zu denken.

»Gib' mir doch wenigstens eine Chance. Du hast mich ja nicht mal reden lassen.«

»Hast du mich denn jemals gelassen?« Ich will Jonah. Will ihn bei mir, will, dass er mich in den Arm nimmt, mir sagt, dass ich stärker als sie bin. Aber er ist nicht da und ich bin ohne ihn so schwach. Kann sie ohne ihn nicht abweisen, nicht überleben. Er ist mein Anker, der mich vor ihr beschützen kann.

»Li!«, wird sie mit einem Mal laut und ich zucke zusammen, bekomme augenblicklich Angst. Die Angst ist stärker als alles andere, stärker als mein Hass auf sie, stärker als mein Mut, stärker als die erwachsene Frau, die ich bin, und ich fühle mich wieder wie ein kleines Kind. »Tut mir leid«, fügt sie an. »Ich will bloß...Ich möchte bloß reden. Geht das?«

»Wieso? Wir haben nie geredet, und es scheint dich nicht gestört zu haben.« Mir steigen Tränen in die Augen. Nein, nein, nein. Ich will nicht weinen. Kann nicht weinen. Ich darf einfach nicht. Sie darf nicht sehen, wie schwach ich bin.

»Das war damals und jetzt ist jetzt.«

»Alina.« Sie zuckt zusammen, als ich sie beim Namen nenne. Hat sie erwartet, dass ich sie immer noch als Mama bezeichne? Nach allem, was sie getan hat? »Ich möchte nichts mit dir zu tun haben. Merk's endlich«

The Loved OnesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt