II

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Doroteja

Mein Ohr war verheilt. Aber da war noch eine andere Wunde, die da drinnen in meiner Brust.

Susi verfolgte mich bis in meine Träume. Sie stand wie ein Geist vor mir und lächelte mich mit ihren roten Hamsterbacken an. Und sogar, wenn ich wach war, spukte sie in meinem Kopf herum. »Komm, spielen wir!«, krächzte Susi in mein Ohr. Ich hielt mir die Hand drauf, doch die Stimme war trotzdem noch da. Dann fühlte ich die harte Kruste, die sich auf die Verletzung gelegt hatte.

»Du kannst mich mal«, zischte ich. Susi war für mich gestorben. Wie ein Stein lag ich in meinem Bett, schlug mit der Faust auf die Decke und knurrte. Am liebsten würd ich einfach liegenbleiben und nichts tun, außer Löcher in die Wand zu starren.

Die Tapete war an einigen Stellen losgelöst und ich hatte das Bedürfnis, daran zu ziehen. Schöne lange Tapetenfetzen, die ich mit einem »Ratsch« herunterreißen würde − da hätte ich jetzt Lust drauf. Sie sah sowieso hässlich aus.

Der Punkt an der Wand bewegte sich und flog zum offenen Fenster hinaus. Ich verfolgte ihn mit meinem Blick. Doofe Fliege, die hats gut, kann einfach ohne Mühe aus dem Fenster fliegen. Das wär fast noch besser, als hier liegen zu bleiben.

Das Bett am anderen Ende des Zimmers war leer. Martin war schon bei Mama unten in der Küche. Gleich würde sie mich holen, ich stellte mich schlafend. Da kam mir ein Einfall, eine grandiose Idee. Ich riss die Augen wieder auf.

Na klar! Das war die Lösung! ALLE konnten mir gestohlen bleiben. Alle im Kindergarten und alle hier zuhause. Von nun an würde ich nur noch alleine spielen. Das war die beste Idee seit langem. Keine Freunde – kein Ärger.

Ich sprang aus dem Bett und testete meine neu entdeckte Strategie sofort aus.

Marko stand schon vor der Tür und wollte mich abholen. Das tat er oft, denn mein Haus lag direkt auf seinem Weg. Da ich schon sechs Jahre alt war, durfte ich allein zum Kindergarten gehen. Er ging auch allein, weil es seinen Eltern egal war. Marko war immer überall – außer daheim.

Er stand dort und grinste mich mit seinen verfaulten Zähnen an. Ich rümpfte die Nase, weil eine Rotzglocke seine Nase zierte. Er sollte heute der Erste sein, den ich wie Luft behandeln würde. Ich schickte einen meiner allerbösesten Blicke in seine Richtung und spazierte an Marko und meiner Mutter vorbei, als wäre ich eine Königin.

»Tschüss!«, rief meine Mama. »Und beeilt euch, ist schon spät!« Dann fiel die Tür ins Schloss.

Die Sonne brannte auf meinen Kopf. Mama hatte mir zwar eine Kappe aufgezogen, aber die sah aus wie eine Babymütze. Deshalb war sie in meine Tasche gewandert. Hinter mir hörte ich die Schritte und die Rufe meines Begleiters, aber ich schenkte ihm keine Beachtung.

Mein Plan gefiel mir. Ich war richtig stolz auf meinen grandiosen Einfall. Markos Sprüche hörte ich schon bald nicht mehr und die Steinchen, die er warf, juckten mich auch nicht. Ich rannte immer schneller und kurz vorm Ziel hatte ich ihn dann endlich abgehängt. Der Kindergarten erschien nach der Kurve und mein Herz klopfte, als wollte es herausspringen.

Meine Idee funktionierte tatsächlich. Ich musste mich von nun an mit niemandem mehr herumärgern. Die Fliege von vorhin kam mir in den Sinn. Ich fühlte mich in dem Moment, als würde ich ihr durch das Fenster folgen.

Doch es kam ganz anders. Das Schicksal hatte andere Pläne, wie so oft im Leben. Ich sollte meine Idee schon sehr bald in den Wind schießen.

~~~

Ich saß in der Leseecke und las einigen Kindern vor. Ich konnte nämlich schon lesen. »Kö...«, las ich. Da wurde ich unterbrochen. Frau Bogner war in der Tür erschienen, neben ihr ein Junge, ein Mädchen und eine Frau.

»Das ist die Familie Novak. Der kleine Ivo, seine Schwester Doroteja und die Mama der beiden.« Frau Bogner betonte jedes ihrer Worte.

Warum sprach sie so seltsam? Wir waren doch nicht doof? Sie guckte mit ihren Froschaugen über die Brille. Das graue Haar ordentlich frisiert. Dann beugte sie sich zu uns herunter und fuhr fort mit ihrem seltsamen Geplapper. »Sagt schön guten Tag, Kinder!«

»Guten Tag, Familie Noowaak!«, ertönte es im Chor. Die Mama lächelte, ihre Wangen waren so rot wie zwei Kirschen. Sie sah aus wie diese Frauen in den Zeitschriften. Das pure Gegenteil der alten Schachtel neben ihr.

Ich mochte Frau Novak vom ersten Moment an. Sie schimpfte sicherlich niemals und backte jeden Tag leckeren Kuchen. In ihrem Kleiderschrank sah ich bunte Sommerkleider, Stöckelschuhe und passende Handtaschen dazu. Ihr Parfüm wehte bis zu mir herüber.

»Ivo und Doroteja sind neu hierhergezogen und werden ab morgen in unseren Kindergarten gehen. Wir sind alle ganz besonders nett zu den beiden, habt ihr verstanden?« Frau Bogner klatschte in die Hände und gab uns das Zeichen, weiterzuspielen. Dann wendete sie sich der Kirschmama zu.

Ich schielte zu dem Mädchen. Es sah sich um, mit großen schwarzen Augen und ebenso schwarzen Locken, die ihr ins Gesicht fielen.

Sie trug eine weiße Strumpfhose, ein gelb-blaues Kleid und einen Haarreif. Sie erinnerte mich an einen Film. Was war das gleich nochmal?

»Schneewittchen!«, murmelte ich. Die sieht aus wie das Disney-Schneewittchen mit dem gelben Kleid und dem roten Haarband. Ich liebte schwarze Haare. Man mag immer das, was man nicht hat. Ich hatte keine schwarzen Haare, ich war wie Pippi Langstrumpf. Meine Haare waren rot und mein Gesicht voller Sommersprossen.

»Hmm«, brummte ich. Was sollte das Ganze jetzt? Frau Bogner ging mit den Dreien im Gänsemarsch durchs Zimmer und sprach dabei mit Händen und Füßen.

Der kleine Junge grinste ständig und ich sah verfaulte Zähne hervorblitzen − wie bei Marko. Der soll in den Kindergarten? Der war ja noch ein Baby. Mir wurde das Ganze zu blöd. Ich ging in die Puppenecke und spielte. Das Baby musste gewickelt werden, es schrie kläglich und machte ein hässliches Gesicht dabei.

Plötzlich riss mir jemand die Windel aus der Hand. Fremde Hände zogen das Baby von mir weg und ich blickte auf. Schneewittchen saß neben mir, schüttelte mit hochgezogener Augenbraue den Kopf, legte das Baby sanft auf das Kissen und machte: »tztztz«

»Hey du, glaubst ich kann das nicht?«, fauchte ich sie an und schnappte mir die Puppe wieder. Ich drehte mich weg und knurrte. Was bildete die sich eigentlich ein? Die sollte mal lieber ihren vergifteten Apfel essen, dann könnte ich in Ruhe weiterspielen. Dann äffte ich sie nach: »tztztz«

Doch die Neugier pikste mich wie eine Nadel und ich blickte zurück. Da saß Doroteja mit einer anderen Puppe und wickelte sie mit ernster Miene wie eine echte Mutter.

Mir fehlten die Worte. Ich knallte meine Puppe auf den Holzboden und durchbohrte Doroteja mit meinem Blick. Was für eine Verrückte! Die hatte vielleicht Nerven, als wäre das hier ihr Zuhause − als wäre das ihr Schloss!

Doch dann fiel mir meinPlan wieder ein. Allein spielen, in Ruhe und Frieden, das war mein Gesetz. Ichzog mein Baby an und drehte mich weg von Doroteja.

KastanienherzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt