Himmel voller Luftballons
Susi sah ich die ganzen Sommerferien nicht mehr. Ich wusste nicht, was mit der Kette geschehen war. Ich wollte auch nicht darüber nachdenken.
Immer, wenn ich an Doroteja dachte, schnürte etwas meine Kehle zu und ich musste schwer schlucken. Dann sah ich ihre schwarzen Augen. Ich fühlte mich, als hätte ich ein Vogelbaby aus dem Nest gestoßen.
Die Ferien waren fast vorbei und ich hockte allein in meiner Dschungel-Höhle, streichelte die Katze auf meinem Schoß und dachte an die Schule. Neben wem ich wohl sitzen würde? Mir fiel niemand ein, außer Marko, aber so ganz zufrieden war ich mit ihm als Tischnachbarn nicht. Er war nicht immer mein Freund, nur, wenn ihm gerade danach war. Ich seufzte tief.
Die Blätterkronen verdeckten den strahlend blauen Himmel. Ein Vogel saß ganz oben auf einem Ast. Wie in Dauerschleife ertönte sein Gezwitscher. Ich könnte ihm stundenlang dabei zuhören. Die Welt stand still. Fast.
»Hallo, du!«, Eine Stimme riss mich aus meiner Träumerei. Ich schirmte meine Augen ab und blickte auf. Doroteja.
Ich sah in eine blaue Blume, auf einem gelben Kleid. Und Arme, in die Seiten gestemmt. Das Zweite, was mir ins Auge stach, war die Kette um ihren Hals. Die beiden Katzen formten ihr Herz auf Dorotejas Brust. Zwei grüne Augen glitzerten wie Edelsteine. Auf meiner Brust war nur ein Knoten, der mir meine Stimme raubte.
»Hallo!«, flüsterte ich. Meine Spucke schmeckte bitter. War alles nur ein Traum und die Kette nie weg gewesen? Nein, das konnte nicht sein, es war so real gewesen wie Doroteja jetzt gerade vor mir stand. Doch wie hatte sie die Kette zurückbekommen? Vielleicht waren ihre Eltern zu Susi gegangen oder Susi hatte doch noch ein schlechtes Gewissen bekommen. Ich grübelte und auch mein schlechtes Gewissen pikste noch immer in meiner Brust.
Wie konnte Doroteja jetzt so tun, als wäre nichts gewesen? Machte ihr das denn gar nichts aus? Immerhin war unsere Aktion ziemlich übel gewesen und ich könnte das Susi nicht so schnell verzeihen. Genau wie die Sache mit dem Stein und meinem Ohr, das nagte auch noch an mir wie eine hungrige Ratte.
Aber Schneewittchen lächelte wie eine waschechte Märchenprinzessin, was mich mächtig beeindruckte. Plötzlich erschien sie mir so stark wie eine Königin, trotz ihrer knochigen Schultern und den eingefallenen Wangen.
»Wir Fangen spielen?«, fragte sie, als wäre es das Normalste auf der Welt.
Ich rappelte mich auf, wusste nicht, was ich sagen sollte. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen und ich starrte sie an, weil ich mich vergewissern wollte, ob ich nicht träumte.
"Okay!", antwortete ich wie ein Roboter. Mir brannten so viele Fragen im Hals, aber ich schluckte sie herunter. Meine Ameisen würden das Feuer schon irgendwie löschen.
Und dann spielten wir, ohne zu ahnen, dass das Glück so unbeständig wie ein Sommertag war. Denn das Unwetter war bereits dabei, sich zusammenzubrauen und uns mit voller Wucht der Sonne zu berauben.
~~~
Wir spielten nicht nur an diesem Tag. Wir spielten auch am nächsten und am übernächsten. Wir spielten die restlichen Tage, bis zum ersten Schultag. Dann setzten wir uns nebeneinander, lugten an unseren bunten Schultüten vorbei und strahlten uns an. Unsere Wangen glühten und unsere Herzen klopften. Die Tiere im Körper waren nicht mehr unangenehm, es war nur mehr ein Kitzeln.
Doroteja wurde meine Freundin. Wir redeten nicht ein einziges Mal über die Sache mit der Kette. Trotzdem verfolgte mich Dorotejas Gesicht noch oft. Nie wieder wollte ich diesen Ausdruck in ihren Augen sehen.
Ich schloss Doroteja und ihre Familie tief in mein Herz, sie waren eine große Bereicherung für mich und haben meine Einstellung zum Leben bis heute tief geprägt.
Doroteja war wie ein Himmel voller Luftballons, ein Meer mit bunten Blumen. Mit ihr zu spielen, war wie im warmen Regen zu tanzen. Sie bedeutete Freundschaft ohne fliegende Steine, ohne Ärger, ohne Streit. Sie war immer bei mir. Egal, was geschah. Sie war es, die nach jedem kleinen Streit lächelte und mit den Schultern zuckte.
Doch eines Tages platzten unsere Luftballons. Wir fielen tief und landeten hart.
Nicht nur in Dorotejas Heimat waren Bomben explodiert. Auch hier bei uns schlug eine ein. Sie hieß: Realität! Der Krieg war vorüber und Familie Novak mit meiner Doro sollten Deutschland wieder verlassen müssen. Aber sie wollten hierbleiben, sie wollten nicht zurück, jetzt wo ihre Eltern Arbeit und die Kinder Freunde gefunden hatten. Sie gingen zur Schule, hatten Deutsch sprechen gelernt. Zuhause war alles zerstört! Es gab ihre alte Heimat nicht mehr.
Die Novaks waren sehr beliebt im Dorf. Die Bewohner sammelten Unterschriften. Wir alle wollten sie hierbehalten. Wie könnte auch jemand so grausam sein und Doroteja mir wegnehmen wollen? Jetzt wo ich zum Teil der Familie geworden war. Ich kannte den Weg nach Hause kaum mehr, ich lebte fast schon bei den Novaks.
Hier war alles Zuckerwatte, hier schmeckte sogar trockenes Brot wie Schokolade. Ich fragte mich oft, wie ich vorher leben konnte − ohne sie. Mit Doroteja war alles bunt, als wäre sie tatsächlich einem Disney Film entsprungen. Ich versuchte später oft, zu verstehen, warum sie so wichtig für mich gewesen war. Heute denke ich, es war die Demut vor dem Leben, ihre unerschütterliche Lebensfreude. Sie wusste, den Frieden zu schätzen.
Wir sind nur damit beschäftigt, uns zu vergleichen. Besser, schneller, weiter, höher. Wir sehen nur den unerreichbaren Gipfel, sind frustriert, weil wir ihn nicht erreichen. Menschen wie die Novaks sehen, wie viel des Weges hinter ihnen liegt und sind froh, es so weit geschafft zu haben, mit jedem noch so kleinen Zentimeter.
Ich wollte und konnte nicht glauben, dass sie uns womöglich verlassen mussten. Das durfte nicht geschehen, also geschah es auch nicht! Daran glaubte ich so fest wie an den Frühling nach dem Winter. Ich zweifelte keine Sekunde daran und so war ich völlig unbekümmert. Viele Unterschriften wurden gesammelt und die Chancen standen gut.
~~~
An einem späten Herbsttag standen Doroteja und ich auf dem Pausenhof, an die schmutzige Wand des Schulgebäudes gelehnt. Wir knabberten an unseren Broten und blickten uns verstohlen um, als würden wir etwas Ungeheuerliches aushecken. Doch niemand schenkte uns Beachtung.
Es roch nach Winter. Das war der Schnee, der bereits auf den Bergen lag und zu uns herüberwehte. Ich zog meine Jacke enger und fröstelte.
»Also, Doro, jetzt hör mal gut zu«, begann ich.
Doroteja fummelte an ihrer Tüte herum und das Knistern brachte mich für einen Moment aus der Fassung. Was wollte ich noch mal sagen?
»Ich noch nie Schnee gesehen, das mein Wunsch, ich will sehen!«, hörte ich Dorotejas Stimme zwischen dem Geraschel. Sie blickte in die Ferne, als ob auch sie ihn riechen konnte.
Da fiel es mir wieder ein. Ich stellte mich direkt vor sie, damit sie mich ansehen musste. »Wir brauchen uns überhaupt keine Sorgen machen. Ihr müsst nicht weg. Niemals.« Ich verschränkte siegessicher meine Arme und sah sie an, als hätte ich gerade einen Preis gewonnen.
»Aa-ha und woher du weißt das?«, forderte sie mich heraus. »Bist du Chef von Deutschland?« Sie stemmte ihre Arme in die Hüften und bohrte nach: »Hmmm?« Ihre Stimme wurde immer höher, bis sie nur noch piepste.
»Weil ich es mir nicht vorstellen kann − und was ICH mir nicht vorstellen kann, das passiert auch nicht!« Meine kleine heile Nussschalen-Welt kannte die wirkliche Welt da draußen noch nicht. Das Einzige, was mir Kopfzerbrechen bereitete, war die Unendlichkeit des Weltalls, doch selbst das veränderte sich nicht.
Meine Sicherheit sprang auf Doroteja über.
Sie hakte sich bei mir ein und strahlte, ohne einen Schimmer des Zweifels. Erhobenen Hauptes und mit Schritten wie von Soldaten marschierten wir zur Schule hinein. Wir hielten uns fest, drückten die Hände zusammen, bis sie schmerzten. Doch ließen nicht los.
Wir saßen in unserem Kastanienbaum. Die Katzen verrieten uns nicht.
Sie blinzelten uns zu und wir lachten Tränen, weil niemand uns hier fand.
Unsere Herzen waren wie die Kastanien − von Stacheln geschützt.
Unsere beider Seelen − tanzende Blätter im Wind.
"Werden wir uns wiedersehen?"
"Na klar, Dummchen!"
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Kastanienherz
RandomGruppensieger beim Ideenzauber-2020 Kastanienherz ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem deutschen und einem kroatischen Flüchtlings-Mädchen. Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit aus meiner Kindheit und...