IV

49 15 23
                                    

Die Kette

Doroteja blickte in unsere Richtung und stoppte ihr Spiel. Sie hob den Ast, zeichnete schwungvolle Achten in die Luft und grinste uns an. Mit riesigen Rehaugen fixierte sie Susi und mich. Sie war ein mutiges Reh.

»Willst du mitspielen?«, quäkte Susi.

»Was spielen?«, fragte Schneewittchen, ihre Augen glänzten. Sie bemerkte die Falle nicht, in die sie Gefahr lief, zu tappen.

Ich blieb stumm und kämpfte mit meinem Magneten im Boden. Mein Herz raste.

»Fangen!«, schlug Susi vor. »Das Gitter bei der Höhle ist Freibahn.«

»Gut. Ich spielen.« Doroteja warf den Stock in hohem Bogen fort.

Wie, verdammt nochmal, sollte ich Fangen spielen können, wenn ich wie gelähmt war. Susi klatschte mich ab. »Hanna, du fängst an!«, forderte sie.

Schwupps, der Magnet war verschwunden. Ich schob mein mulmiges Gefühl beiseite und rannte hinter den beiden her. Doroteja war wie ein Mäuschen, keiner von uns bekam sie zu fassen. Sie kreischte und lachte, strahlte uns mit roten Wangen an. Ich vermied es, ihrem Blick zu begegnen. Vielleicht würde Susi gar nichts machen. Nur Fangen spielen.

Doroteja war im Dickicht verschwunden, da zog Susi mich zu sich. Wir standen mit dem Rücken an einen Stamm gelehnt, Susi hielt mich an der Hand. Ich schüttelte sie ab und flüsterte: »Was ist los?«

»Wir klauen ihre Kette!«

»Was für eine Kette?«, fragte ich. Meine Krabbeltiere schnürten mir die Luft ab. Ich wollte auch eine Kette. Unbedingt sogar. Ich trat von einem auf das andere Bein.

»Sie hat so ne Kette mit Katzen drauf, hast du die nicht gesehen?«

»Nö!« Ich lugte vorsichtig durch die Blätter und konnte Doroteja sehen.

Sie stand etwas weiter unten, die Hände in die Seite gestemmt, und wartete geduldig. Ihre schwarzen Locken reichten bis zu den Ohren und ihr Nacken war schmächtig. Das Kleid hing wie ein Sack an ihr. Spitze Schultern hoben sich ab.

»Was willst du machen?« Meine Hemmungen waren verflogen. Ich fühlte mich erhaben, hier oben, wie ein wildes Tier, das seiner Beute auflauerte.

»Wirst schon sehen!«, flüsterte Susi und rief: »Hey, Piiep, hier ooben!« Dann riss sie mich hinunter auf den Boden. Wir hockten im Staub und kicherten mit vorgehaltenen Händen.

»Ja! Ich sehen!«, rief Schneewittchen und setzte sich in Bewegung. Sie krabbelte nach oben wie ein kleines Äffchen, rutschte am Hang immer wieder ab. Bald war ihr blaues Kleid braun. Dann entdeckte sie uns. Sie schob die Blätter weg und wir stoppten unser Kichern.

»Da, ich fangen euch!« Sie tippte uns beide ab und hockte sich neben uns. Stöhnend rieb sie sich ihre Beine. »Wir spielen weiter?«, keuchte sie.

War sie etwa schon aus der Puste? Hörte sich jedenfalls so an. Susi kicherte nur.

Da sah ich die Kette. Sie war silbern, mit zwei Katzenfiguren drauf. Diese hatten, anstelle der Augen, zwei grüne Glitzersteine. Ihre Schwänze verknoteten sich zu einem Herz.

Die Kette war wunderschön.

Ich schwitzte und rutschte hin und her. »Ich brauch ne Pause«, sagte ich und setzte mich in den Schneidersitz.

»Ich auch!«, sagte Susi. Sie ließ sich nieder plumpsen und wirbelte Staub dabei auf.

»Ich auch!«, sagte Doroteja und kicherte. Sie wischte mit der flachen Hand über eine Wurzel und setzte sich drauf. Dann legte sie die Hände fein säuberlich auf ihren Knien ab.

Es folgten einige Minuten Ruhe. Die Gedanken wehten als laue Sommerbrise um uns herum. In mir kribbelte es bis in die Haarspitzen.

Da raschelte es plötzlich. Wir hielten den Atem an. Neben Susi huschte eine Katze zu uns herbei. Schnurrend schlich sie von einem zum anderen. Wir streichelten sie.

»Minkilein«, säuselte Susi.

»Das deine Katze?«, fragte Doroteja.

Susi nickte.

»Ich lieben Katze«, sagte Doroteja und schloss dabei die Augen. Susi und ich schielten auf ihre Kette, dann zwinkerten wir uns zu.

»Sieht man an deiner Kette.« Ich hatte meine Worte wiedergefunden.

Schneewittchen nahm den Anhänger in ihre Hände und sagte: »Geschenk von Mama und Papa!«

»Wennst mir die Kette mal gibst, darfst wieder mitspielen«, sagte Susi. Mein Herz setzte aus. Susi wollte das echt durchziehen.

Doroteja verengte ihre Augen. Jetzt sah sie gar nicht mehr wie eine Prinzessin aus.

»Hmm«, schmollte sie.

»Nur zum Anschauen. Ich will die Kette nur mal anschauen. Kriegst sie ja wieder«, bettelte Susi. Sie faltete ihre Hände wie zum Gebet. Zum scheinheiligen Gebet.

»Ja genau! Wir sind doch jetzt Freundinnen!«, sagte ich und war genauso scheinheilig dabei.

Doroteja lächelte wieder. Dann zuckte sie die Schultern und senkte ihren Kopf. Sie fummelte am Verschluss, löste die Kette vom Hals und legte sie in Susis Hände.

Susi strich darüber, hielt sich die Katzen vor die Augen und zögerte. Wie Gollum beugte sie sich über das Schmuckstück. Dann gab sie es mir. Die Augen der Katzen glänzten so wunderschön. Ich hatte noch nie so eine schöne Kette gehabt. Warum hatte Doroteja so was Tolles und ich nicht?

Sie streckte mir ihre Hand entgegen, damit ich sie ihr zurückgeben sollte.

Ich schielte zu Susi. Die schüttelte kaum merklich den Kopf.

Mein Herz klopfte wie verrückt. Gleich würde ich platzen. Der Boden dröhnte und ich wand mich innerlich. Dann setzte mein Gehirn aus.

Ich legte die Kette in Susis Hand, die sprang auf und lief davon.

»Heyyy!« Doroteja schrie auf. »Meine Kette. Von Mama. Bitte komm!« Ihre Stimme brach.

Meine Brust zog sich zusammen. Nun waren die Tiere in meinem Kopf. Überall. Ich wollte das Geschrei nicht hören. Ich hielt mir die Ohren zu und da war er wieder. Der Magnet. Ich war wie gelähmt. Es dröhnte in meinen Ohren und ich sah zu Doroteja.

Sie stand vor mir und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie rief und bettelte, aber Susi war über alle Berge.

Ich hielt es nicht mehr aus. »Sei still!«, schrie ich, aber Doroteja weinte noch immer, sie hörte mich nicht. Dann lief sie weg und ich blieb allein zurück. 

KastanienherzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt